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Prorussische Demonstranten in der ostukrainischen Stadt Donezk.

© dpa

Krise in der Ukraine: Schon am Sonntag könnte Donezk sich abspalten

„Junta“ schimpfen sie die Regierung. Am Sonntag will sich die „Donezker Volksrepublik“ im Osten der Ukraine per Referendum von Kiew lossagen. Die Nervosität steigt, der Krieg kommt näher.

Der Aufruf dröhnt über den Platz vor der Donezker Gebietsverwaltung: „Bringt uns Wasser, Essen, Teller, Besteck!“ Die Sonne scheint an diesem Tag warm auf die ostukrainische Industriemetropole im Donezbecken, kurz Donbass. Vor der elfstöckigen klobigen Behörde, die seit knapp einem Monat besetzt ist, haben sich mehrere hundert Menschen versammelt. Die Stimmung gleicht manchmal einem Volksfest. Heldenlieder schallen durch Lautsprecher. Ein paar Leute sind dem Aufruf der Besetzer schon gefolgt: Essen wird ausgegeben, Tee ausgeschenkt. Es sind vor allem ältere Donezker, die gekommen sind, man plauscht in Gruppen und schießt Fotos vor den Barrikaden aus Reifen, Holzstücken, Stacheldraht und Ziegelsteinen. Dann hebt der Sprecher abermals an: „Leute, wir brauchen eure Unterstützung. Bringt Benzin!“ Es ist ein Volksfest, aber eines, das bereit ist zu seiner Verteidigung.

Abseits der besetzten Gebäude gehen die Menschen ihrem Alltag nach, doch an den Brennpunkten ist die Nervosität vor einem möglichen Sturm der Regierungstruppen und einer ernsthaften Konfrontation spürbar. Eine Frau gibt sich kämpferisch: „Wir werden gewinnen“, ruft sie. „Der Sieg ist unser.“

Viele Aktivisten sind bewaffnet, meistens mit Kalaschnikow oder Holzprügeln. Hin und wieder fallen in der Nacht Schüsse. Die Finger sitzen locker am Abzug dieser Tage.

Auch am Montag kam es wieder zu heftigen Kämpfen

Nur ein paar Dutzend Kilometer von der 950000 Einwohner zählenden Stadt hat die ukrainische Armee seit vergangenem Freitag mit einer neuen Offensive gegen die von prorussischen Separatisten besetzten Einrichtungen begonnen. Am Montag kam es in Slowjansk und Kramatorsk wieder zu heftigen Kämpfen zwischen der Armee und den Kämpfern der „Donezker Volksrepublik“, die sich von der Ukraine lossagen wollen. Bei Schusswechseln zwischen ukrainischen Regierungstruppen und prorussischen Separatisten nahe der östlichen Stadt Slowjansk sind nach Angaben Kiews mehrere Menschen getötet worden. Am Vortag hatte die Armee die Belagerung der von Milizen gehaltenen Stadt Slowjansk verstärkt.

Die Situation im Donbass, wo prorussische Aktivisten am Wochenende die Militärstaatsanwaltschaft und das Gebäude des ukrainischen Geheimdienstes SBU besetzten, gleicht einem Katz-und-Maus-Spiel: Wird ein Gebäude von der Polizei geräumt, kapern die Aktivisten das nächste. Mit der Offensive von Militär und Sicherheitskräften will Kiew die Separatisten an der Abhaltung ihres für nächsten Sonntag geplanten Referendums über den Status der „Donezker Volksrepublik“ hindern. Der Chef des Kiewer Antiterrorzentrums Wasilij Krutow sprach offen von einem „Krieg“ in der Ostukraine.

Was sich die Aufständischen von Russland erhoffen

In der Empfangshalle im Erdgeschoss der Gebietsverwaltung haben die Aktivisten einen Aufenthaltsraum eingerichtet. Frauen schmieren Brote, Aktivisten ruhen sich auf Stühlen aus und sehen fern. Es läuft ein russischer Kanal. Auf einem der Stühle sitzt Rafik, ein Mittfünfziger, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will. „Ich helfe, wo ich gerade gebraucht werde“, sagt er. Wie so viele hier will er am Sonntag für einen unabhängigen Donbass stimmen. Die Argumente für eine Abspaltung von der Ukraine liegen auf der Hand, zumindest für Rafik und die anderen „Befürworter der Föderalisierung“, wie sich die Separatisten selbst nennen.

„Russland ist uns näher als Europa“, sagt der Mann, der aus Aserbaidschan stammt. Wie so viele hier spricht Rafik von der neuen Kiewer Regierung als „Junta“, die das Land an den Westen verkaufen wolle. Von den selbst ernannten Herren der Donezker Volksrepublik erhofft er sich eine enge Zusammenarbeit mit Russland, womöglich sogar den Anschluss an Putins Reich, Wohlstand und Stabilität für den schwerindustriell geprägten Donbass, wo viele Schächte und Fabriken vom Aus bedroht sind, günstigere Gaslieferungen, Aufwertung der russischen Sprache und Kultur.

Drei Dutzend Aktivisten starben allein am Freitag

Die Straßenschlachten von Odessa, bei denen mehr als 40 Menschen starben, haben die Abspaltungswünsche noch befeuert. Drei Dutzend prorussische Aktivisten starben am vergangenen Freitag im Gewerkschaftshaus, das in Flammen aufging. Wer für die vielen Toten Verantwortung trägt, ist noch unklar. Die Regierung in Kiew hat eine Untersuchung der Ereignisse angekündigt.

Um jemanden zu finden, der nicht mit Euphorie auf die Abstimmung am Sonntag wartet, muss man in Donezk länger suchen. In einer Unterführung unter dem Artjom-Prospekt besitzt die 56-jährige Sweta Iwanowa einen Kiosk. Bis vor kurzem hat sie hier zwischen Zeitungen und Ansichtskarten noch ukrainische Flaggen verkauft. Dann trat eines Tages ein Mann ein und herrschte sie an, was das solle. Sweta versteckt seitdem die Fahnen unter dem Ladentisch. Sie kann nicht verstehen, warum so viele ihrer Mitbürger sich plötzlich einem fremden Staat unterordnen möchten. „Wir leben doch in der Ukraine.“ Sweta stockt. Der Zweifel in ihrer Stimme hat sie aufschrecken lassen.

Der Text erschien auf der Dritten Seite.

Jutta Sommerbauer

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