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Ein Fahrzeug der Initiative "Moabit hilft" vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in der Turmstraße.

© Jörg Carstensen/dpa

Update

Lageso in Berlin: Der seltsame Fall des toten Flüchtlings, den es nie gab

Es gibt Tränen, Kerzen brennen, Rücktritte werden gefordert. Die Nachricht vom Tod eines Syrers schockiert die Stadt. Doch dann gibt es Zweifel. Auch wenn es keinen Toten gegeben hat, ist es ein schwerer Schlag für Flüchtlinge und Helfer.

Was in der Nacht zuvor passiert sein soll, hat sich bei „Moabit hilft!“ am Morgen schon herumgesprochen. In einer Bogentür des roten Backsteingebäudes haben sie einen kleinen Schrein aufgebaut, Grabkerzen stehen auf dem Boden, an der Tür hängt ein Zettel: „Wir trauern um dich. Du wurdest 24 Jahre alt. Du kamst aus Syrien. Du hast so viel überlebt. Du hast das Lageso nicht überlebt.“ Und dann weiter: „Du bekamst Fieber, Schüttelfrost, Herzstillstand. Du bist letzte Nacht verstorben. Wir weinen.“ Zu diesem Zeitpunkt kann niemand wissen, ob das, was auf dem Zettel steht, wahr ist.

Neben dem Eingang des Backsteingebäudes haben die Helfer ein schwarzes Tuch zwischen zwei Regenrinnen gehängt. Sie selbst tragen schwarze Armbinden. Auch Diana Henniges, die Vorsitzende von „Moabit hilft!“, steht vor dem Banner. Sie sagt, sie mache die Politik dafür verantwortlich, was in der Nacht passiert sei. Die verantwortlichen Parteien und Senatsverwaltungen. Ganz besonders Mario Czaja (CDU), den Berliner Sozialsenator. Der müsse jetzt gehen.

Diana Henniges sagt dies alles, weil sie demjenigen, der ihr vom angeblich Geschehenen erzählt hat, vertraut. Der Flüchtlingshelfer Dirk V. hat die Nachricht vom Tod des 24-jährigen Syrers verbreitet. Dirk V. hatte den erschöpften Mann angeblich in der Nacht zu Mittwoch zu sich nach Hause eingeladen, nachdem dieser tagelang beim Lageso, dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, angestanden habe. In seiner Wohnung habe sich der unter Fieber leidende Mann hingelegt.

Christiane Beckmann und Diana Henniges von der Initiative "Moabit hilft".
Christiane Beckmann und Diana Henniges von der Initiative "Moabit hilft".

© Jörg Carstensen/dpa

Er hat 39,4 Fieber, Schüttelfrost! Nur wer?

Auf Facebook veröffentlichte V. in der Nacht eine Nachricht unter dem Titel „Protokoll eines sterbenden Menschen“. Kurz nach zwei Uhr schrieb er: „Hab grad einen kranken Mann hier liegen, überlege, ob ich einen Krankenwagen rufen muss.“ Bald darauf: „Er hat 39,4 Fieber, Schüttelfrost und kann nicht mehr sprechen.“ Als sich der Zustand des Syrers verschlechterte, rief Dirk V. nach eigenen Angaben die Feuerwehr. Der Flüchtling sei noch im Rettungswagen einem Herzstillstand erlegen.

Es gibt nur keine Bestätigung des Vorfalls. So bleibt der Mittwoch ein Tag der Konjunktive: „Sollte sich diese Schilderung bewahrheiten, muss Mario Czaja unverzüglich zurücktreten“, twittert Ex-Pirat Christopher Lauer am Vormittag. Sollte das Chaos am Lageso das erste Menschenleben gefordert haben, es wäre nicht nur eine menschliche, sondern auch eine politische Katastrophe.

Senator Czaja weiß seit sieben Uhr von dem Vorwurf. In seiner Verwaltung in der Kreuzberger Oranienstraße werden die Mitarbeiter alarmiert. Bis 15 Uhr werden sich allein dort 30 Angestellte und Beamte mit dem Fall befassen. Sie werden Kliniken, Rettungsdienste und Sozialverbände anrufen. Sie werden Druck machen, bei der Polizei, bei der Feuerwehr, beim Lageso. Bis zum Nachmittag, so schätzt es ein Mitarbeiter, werden sich bis zu 500 Berliner stundenlang mit der Frage befassen: Was ist passiert – und wo ist der Tote? Keiner weiß es.

Grüne: Wenn das stimmt, muss Senator Czaja zurücktreten

Der Helfer, der vom Tod des Syrers berichtet hat, ist untergetaucht, geht nicht ans Telefon. Angeblich schläft er, heißt es zunächst. Unter Helfern gilt Dirk V. fast als Prominenter. Ein Freiwilliger, 39 Jahre alt, der in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung immer wieder Flüchtlinge beherbergt hatte. Mehr als 25 in den vergangenen Monaten. Dirk V. gilt als einer der engagiertesten und zuverlässigsten Aktivisten. Als einer, der sich auskennt.

Manche behandeln die Geschichte bereits am Morgen wie eine Tatsache. Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) sagt bei einem Termin in Tempelhof: „Ich habe noch keine Informationen, aber ich bin natürlich unendlich traurig.“ Und Ramona Pop von den Grünen erklärt: „Wenn sich der Fall bestätigt, glaube ich nicht, dass Senator Czaja zu halten ist. Er ist nicht schuldig, aber verantwortlich. Wir haben es alle kommen sehen.“ Ehrenamtliche laden für Sonntag zu einer Gedenkveranstaltung ein.

Es heißt, der Syrer habe immer wieder beim Lageso warten müssen, um sich Krankenscheine abzuholen. Es heißt, das Warten habe ihn ausgelaugt. Schließlich habe er sich mit Fieber anstellen müssen. Es sind Details, die keiner bestätigen kann. Und selbst wenn sich herausstellte, dass der kranke Syrer keine Erfindung war, hieße das noch nicht, dass es einen Zusammenhang zwischen seinem Tod und den Zuständen am Lageso gibt.  Oder ob der junge Mann, so zynisch es klingen mag, auch in jeder anderen Stadt bei bester Versorgung gestorben wäre.

Gegen Mittag geht unter den Freiwilligen von „Moabit hilft!“ die Angst um. Was, wenn sich das Gerücht als unwahr herausstellt? Die eigene Glaubwürdigkeit wäre bedroht – und zwar die von allen Helfern. Die Arbeit würde künftig noch schwieriger. Einer sagt: „Wenn das eine Lüge war, ist es unser Tod.“

Kurz vor 13 Uhr heißt es: gleich Pressekonferenz im Hof vor dem „Moabit hilft!“-Haus. Angeblich soll der untergetauchte Dirk V. anwesend sein und sich öffentlich erklären. Zehn Kamerateams sind da. Warten. Wer dann tatsächlich vor die Presse tritt, ist wieder Diana Henniges. Sie sagt, der Mann, der hier alles aufklären könnte, werde nicht kommen. Er sei zu Hause in Prenzlauer Berg in seiner Wohnung. Die Polizei habe schon Sturm geklingelt, aber Dirk V. öffne die Tür nicht. Einer Freundin soll er eine SMS geschickt haben, sagt Henniges. Darin stehe: Er habe jetzt „keinen Bock und keinen Nerv“, Fragen zu beantworten. Und dass er sich schon rechtzeitig bei den zuständigen Behörden melden werde und auch wisse, dass es dringend sei. Im Moment aber brauche er Zeit für sich.

"Moabit hilft": Wir vertrauen dem Mann

Diana Henniges sagt, dass sie dem Helfer weiter vertraue. Sie sagt aber ebenso: Sollte sich die Geschichte als erlogen erweisen, bedeute das auch für sie persönlich eine Katastrophe. Weil sie anderen Ehrenamtlichen dann künftig nicht mehr so vertrauen könne wie bisher.

Auch Canan Bayram ist gekommen, die Flüchtlingssprecherin der Grünen im Abgeordnetenhaus. Sie sagt, sie versuche herauszufinden, ob das Gerücht wahr oder Lüge sei. Doch egal, wie es ausgehe, ganz sicher sei, dass die katastrophale humanitäre Situation am Lageso überaus real sei.

Damit steht sie nicht allein. Immer wieder haben Ehrenamtliche, Vertreter der Caritas und unabhängige Mediziner die Missstände angeprangert. Zuletzt hieß es, etlichen Flüchtlingen sei seit Wochen kein Geld mehr ausgezahlt worden, sodass diese hungerten. Vor allem aber gilt die medizinische Lage als desolat. So seien bereits mehrere Flüchtlinge in den Warteschlangen zusammengebrochen, mindestens drei Frauen hätten Fehlgeburten erlitten. Unter den Wartenden befänden sich zahlreiche, die an Lungenentzündung, Hepatitis, Krätze, offenen Ekzemen oder an einem Bandscheibenvorfall litten.

Dazu kam die Kälte. Man höre Kinder aus drei Metern Entfernung mit den Zähnen klappern und müsse Mütter überreden, mit ihren Babys nicht in der Kälte zu übernachten, berichteten Helfer schon im Herbst. Seit November sind Angestellte der Charité am Lageso, jeden Tag zwei Ärzte und zwei Pfleger, dazu ein Arzt der Bundeswehr. Sie behandeln Hautinfektionen, Zahnschmerzen, Wunden, immer wieder grippale Infekte.

Ohne die Ehrenamtlichen wäre die Versorgung zusammengebrochen

Noch so ein Konjunktiv: Sollte sich die Geschichte nicht doch noch als wahr herausstellen, wird der Vorfall dem Ruf der Ehrenamtlichen extrem schaden. Nicht nur denen, die sich am Lageso engagieren, sondern auch allen, die in den Flüchtlingsunterkünften aushelfen, die beraten, Kleidung verteilen, die am Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Spandau jeden Tag Essen ausgeben.

Es geht um tausende Berliner, die in den vergangenen Monaten viel Freizeit opferten, manche haben ihre Berufe aufgegeben oder sich zeitweilig beurlauben lassen, um sich ganz ihrer Aufgabe zu widmen. „Ohne die Arbeit der Ehrenamtlichen wäre die Versorgung der Neuankömmlinge längst zusammengebrochen“, sagt eine, die 2013 bereits am Oranienplatz mitgeholfen hat. „Das wissen die Behörden und auch die Heimbetreiber.“ Aber es sei so wie überall auf der Welt, sagt die 30-Jährige: „Selbst wenn die allergrößte Mehrheit einer Gruppe redlich und sauber ist, aus besten Motiven heraus handelt – ein Einzelner kann ein extremes Schlaglicht auf das Ganze werfen.“ Sie kennt Dirk V. über Facebook und sagt, dessen Verdienste seien unbestreitbar. Der Mann sei „die Hilfsbereitschaft in Person“ und einer, der sogar spätnachts noch Flüchtlinge aufnahm, wenn diese sonst auf einer Parkbank hätten übernachten müssen. Vor allem habe er viele andere zum Helfen motiviert. Etwa dadurch, dass er seine positiven Erfahrungen mit den Flüchtlingen im Internet teilte. „Niemand weit und breit, der die Scharia dem deutschen Grundgesetz vorziehen würde“, schrieb er einmal. „Keiner da gewesen bislang, der nicht bereut, seine Heimat verlassen zu haben.“

An diesem Mittwoch machen sich auf Facebook viele Helfer Sorgen um den Untergetauchten. Und sie sprechen sich gegenseitig Mut zu: Egal wie groß der Imageschaden und das Misstrauen würden, nun müsse man erst recht weitermachen und dabeibleiben, nicht vor schiefen Blicken zurückschrecken.

Plötzlich verstummen die, die Czajas Rücktritt fordern

Nachmittags meldet sich der Pressesprecher der Grünen beim Tagesspiegel. Er bittet, nicht mehr zu berichten, Ramona Pop habe sich mit den Worten „Wir haben es kommen sehen“ geäußert. Das sei nicht so gewesen. Auch andere, die seit Tagen Czajas Rücktritt fordern, verstummen nun. Die Kritik am Senator ist eigentlich riesig: Mag sein, dass das Lageso vom Vorgängersenat plattgespart wurde, hieß es. Mag sein, dass Czaja nur einer unter vielen Versagern sei. Dennoch müsse er weg. Immer wieder führte die Opposition dabei an, was auch in Sozialverbänden, Kirchen und Ämtern viele wissen: Der große Wurf, um die Lage zu verbessern, kam vom Senat bis heute nicht. 

Dann gibt es neue Nachrichten vom untergetauchten Dirk V. Inzwischen seien auch engste Freunde vor seiner Haustür gewesen, hätten versucht, irgendwie zu ihm vorzudringen. Sie hatten keinen Erfolg.

Mit jeder Stunde, in der sich Dirk V. nicht meldet, nicht die erlösende Erklärung abgibt, in welchem Krankenhaus der Flüchtling gestorben sei, wird der Zweifel größer – und auch die Befürchtung, dass die Arbeit der Helfer und damit die Versorgung der Asylbewerber in Zukunft noch einmal deutlich schwerer wird. Am Abend teilt die Polizei mit, Beamte befänden sich nun in der Wohnung von Dirk V., die Gespräche dauerten an. Gegen 21 Uhr ist das Facebook-Profil von Dirk V. nicht mehr erreichbar. Dann die Entwarnung durch die Polizei: Dirk V. habe eingeräumt, dass die Geschichte erfunden sei. Es ist kein Flüchtling gestorben.

So verworren der Fall ist, eine Erkenntnis gibt es. Niemand – nicht die Politik, nicht die Helfer, nicht die Presse – hat den Tod eines Menschen am Berliner Lageso auch nur einen Moment lang für unwahrscheinlich gehalten.

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