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Margot Käßmann.

© Thilo Rückeis

Interview: Margot Käßmann: "Man muss das Volk schützen"

Die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann zu Flugverbotszonen, Atompolitik und Demut als Haltung.

Frau Käßmann, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder aus Japan sehen?

Ich habe vor allem Mitgefühl mit den Menschen dort. Manchmal wünsche ich mir, es gäbe eine Stunde Schweigen auf allen Kanälen statt permanent neue Bilder. Damit wir innehalten, Mitleid zulassen und für die Menschen dort beten können. Aber sofort wird gefragt: Was heißt das für uns? Für unsere Börsengänge, für unsere Industrie?

20 Menschen sollen sich freiwillig gemeldet haben, um in den Atomkraftwerken in Fukushima weiter zu arbeiten. Sie opfern ihr Leben für die Mehrheit. Kann man das verantworten?

Wer ist denn verantwortlich? Ich hoffe, diese Menschen machen das wirklich freiwillig. Aus Tschernobyl wissen wir ja, dass viele gar nicht wussten, welcher Strahlung sie ausgesetzt waren. Ich gehe davon aus, dass die Arbeiter in Japan sehr wohl Ahnung haben, und dann ist es ein enormes Opfer für die Gemeinschaft.

Können das Demokratien überhaupt aushalten? Ähnlich ist es mit Soldaten. Kann man ihnen sagen: Riskiert euer Leben, um der Mehrheit zu helfen?

Erst mal wäre es für die Demokratie wichtig, dass die Wahrheit gesagt wird, damit Menschen frei entscheiden können. Auch jetzt in Japan kommt die Wahrheit wieder mal nur scheibchenweise an die Öffentlichkeit. Das sät Misstrauen.

Vielleicht wissen die Verantwortlichen es selbst nicht?

Dann sollen sie das sagen. George Kennan, der frühere US-Botschafter in Moskau, hat einmal gesagt: Man muss den Menschen die Wahrheit sagen und ihnen dann helfen, über den Schock hinweg zu kommen.

Finden Sie es angemessen, wie die deutsche Politik nun über Atompolitik diskutiert?

Ich finde es merkwürdig. Es gibt doch jetzt gar keine neue Beweislage, was die deutschen Kernkraftwerke betrifft. Ich war Bischöfin der Hannoverschen Landeskirche, in deren Gebiet auch Gorleben liegt. Es wurden viele Debatten geführt über die Frage: Können wir diese Energiequelle verantworten, wenn nicht mal klar ist, wie wir die Überreste so bearbeiten können, dass sie für die nächsten Generationen keine Belastung bedeuten? Die Evangelische Kirche war immer für einen Ausstieg aus dieser Energie. Uns wurde entgegnet: Deutsche Atomkraftwerke sind sicher. Jetzt auf einmal soll geprüft werden, was man längst hätte prüfen können. Es ist, als hätte es die Katastrophe von Tschernobyl 1986 nicht gegeben.

Einer Umfrage zufolge hält die Mehrheit der Bevölkerung die Kehrtwende der Regierung in der Atompolitik nicht für glaubwürdig. Wie lässt sich Glaubwürdigkeit wiederherstellen?

Die Regierung müsste sagen: Wir sind schockiert, wir haben das falsch eingeschätzt! Mir würde das helfen, die politische Wende zu verstehen. Und die Regierung müsste das Thema aus dem Parteiengezänk herausnehmen. Damit klar wird: Es ist nicht nur Wahltaktik.

Haben Sie das Gefühl, es ist nur Taktik?

Da ist zumindest ein Unbehagen. Es geht ja zudem um enorme wirtschaftliche Interessen.

Kann die Katastrophe in Japan nicht auch zu neuer Demut in der Politik führen?

Es ist Hybris zu glauben, dass der Mensch die Technik und die Natur beherrscht. Demut wäre schon die richtige Haltung; ich fürchte nur, dass das nicht lange anhält. Nach dem Tod von Robert Enke haben alle gesagt, der Spitzensport werde nie mehr derselbe sein, wir werden innehalten, nicht mehr diesen Leistungsdruck haben, ganz anders Fußball spielen. Nach drei Wochen ging alles weiter wie zuvor. Ich fürchte, Demut ist keine langfristige Haltung.

Müssten Sie nicht optimistisch sein, dass nun doch die Wende in der Atompolitik kommt?

Optimismus ist etwas anderes als Hoffnung. Optimistisch ist die Haltung, alles wird gut. Hoffnung haben heißt, ich bin überzeugt, dass Menschen bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, Sehnsucht in Kreativität umzusetzen. Ich glaube schon, dass man die Welt verbessern kann. Aber als Theologin weiß ich auch, dass die Welt unerlöst ist, nicht vollkommen. Warum haben wir nicht aus Tschernobyl gelernt? Ich fürchte, dass auch diesmal die Atomlobby zu stark sein könnte. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die Katastrophe in Japan zu einem weltweiten Umdenken führt.

Sie sprachen gerade von der Sehnsucht. Ihr neues Buch trägt den Titel „Sehnsucht nach Leben“. Brauchen wir als Gesellschaft mehr von dieser Sehnsucht?

Für mich ist Sehnsucht eine sehr kreative Energie in Menschen. Wer Sehnsucht, wer Träume hat, kann die Gesellschaft verändern. Wer keine Sehnsucht mehr hat, erlahmt. Sehnsucht nach Frieden, nach Gerechtigkeit hat die Menschen immer angetrieben, sonst hätte es große Visionäre wie Martin Luther King nicht gegeben. Oder schauen Sie sich Aung San Suu Kyi in Birma an.

In Libyen treibt die Sehnsucht nach Freiheit die Menschen auf die Straße. Müssen wir ihnen helfen?

Gerade die Westeuropäer haben hier eine große Verantwortung, weil sie diese Regime in Nordafrika mit Waffen ausgestattet haben. Nun müssen wir auch die Freiheitsbewegung unterstützen.

Der UN-Sicherheitsrat hat sich für eine Flugverbotszone ausgesprochen. Zu recht?

Das halte ich eng begrenzt für richtig, weil man das freiheitsliebende Volk vor einem völlig irrsinnig gewordenen Diktator schützen muss.

Flugverbotszone heißt: militärisch eingreifen.

Natürlich ärgert mich grundsätzlich, dass am Ende immer die Frage steht: Muss man jetzt mit Gewalt die Situation lösen? Seit mehr als 20 Jahren war offensichtlich, was in Libyen vor sich geht. Warum wurden die Rüstungsexporte dorthin nicht verboten? Warum wurde zugelassen, dass Unrechtsregime im Mittelmeer mit Kriegsschiffen aus Europa gegen Flüchtlinge patrouillieren? Warum wurde Gaddafi als Staatsgast empfangen und man fand so schön exotisch, dass er im Garten des Elyséepalastes zeltete.

Deutschland hat sich bei der Abstimmung im Sicherheitsrat enthalten.

Wenn die Deutschen vorsichtig sind, was das militärische Eingreifen betrifft, bin ich zunächst froh. Weil wir Erfahrungen gemacht haben, die Zurückhaltung gebieten. Aber: War hier nicht eher ausschlaggebend, dass die Öllieferungen stabil bleiben, was das für die Flüchtlingsströme bedeutet, die Angst vor offenen Grenzen. Ich bezweifle, dass die Motive eindeutig offengelegt wurden. Wir hätten schon viel früher Verantwortung übernehmen müssen – enthalten spricht jetzt davon nicht frei.

Was kritisieren Sie?

Ich vermisse die Freude darüber, was in der Region passiert, in Libyen, Tunesien, Ägypten, Bahrain. Das ist doch großartig, wer hätte das erwartet! Wir dürfen die Bewegungen nicht im Stich lassen, die ureuropäische Gedanken antreiben, den Wunsch nach Freiheit, nach Gleichheit – übrigens auch der Frauen. Es ist offensichtlich ein Irrtum, zu meinen, islamisch geprägte Gesellschaften strebten nicht nach individueller Freiheit.

Haben Sie das Gefühl, dass manche geradezu darauf warten, dass die Muslimbrüder an die Macht kommen, um sich bestätigt zu fühlen?

Viele denken doch sofort an den Iran: Da gab es Freude, dass der Schah als Diktator abgelöst ist, und dann kommt Ayatollah Chomeini, und die Unterdrückung wird noch schlimmer. Statt dieses Schema im Kopf zu haben, sollten wir uns erst einmal freuen und darauf hoffen, dass eine offene, freie Staatsform entsteht. Menschen haben Sehnsucht nach Menschenrechten, und zwar in allen Kulturen dieser Erde.

Ist das islamfeindlich, wenn diesen Gesellschaften der Freiheitswille abgesprochen wird?

Das sind eher fertige Bilder im Kopf, die Annahme, wie Menschen angeblich leben wollen. Ich bin überzeugt, dass Menschen, gleich welchen Glaubens, letzten Endes die Sehnsucht danach haben, in Freiheit leben zu können. Sie wollen Redefreiheit, Bewegungsfreiheit, Religionsfreiheit. Menschenrechte sind universell. Wir können doch nicht sagen, Menschenrechte werden von den einen gewünscht, und bei den anderen erwarten wir gar nicht, dass sie Sehnsucht danach haben, sondern dass sie danach ausgerichtet sind, in Unterdrückung zu leben.

Inwieweit sollte sich denn Europa in Tunesien oder Ägypten einmischen?

Wichtig ist, dass wir nicht mit fertigen Konzepten kommen und erklären wollen, wie Demokratie geht. Es gibt dort genügend gut ausgebildete Menschen, und die müssen wir in ihrem Land für ihren eigenen Weg unterstützen.

Wie könnte das konkret aussehen?

Bei Besuchen stellt sich beispielsweise immer die Frage, wer trifft wen? Besucht eine offizielle Regierungsdelegation in einem islamisch geprägten Land einen christlichen Gottesdienst, wertet das die christliche Minderheit deutlich auf. Wenn ein deutscher Minister nach Tunesien fährt und eine Fraueninitiative trifft, muss die dortige Regierung zur Kenntnis nehmen, dass es diese Bewegung gibt. Wir sollten die Zivilgesellschaft unterstützen, moralisch, finanziell, durch Fortbildungen.

Als wir das letzte Mal mit Ihnen ein Interview führten, waren Sie noch Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. Nach Ihrem Rücktritt gingen Sie drei Monate in die USA, nun haben Sie eine Gastprofessor in Bochum und leben in Berlin. Reizt es Sie noch, auf den politischen Diskurs Einfluss zu nehmen?

Sie wollten mich fragen und ich antworte als Theologin der Universität Bochum. Ich habe kein Amt, keine Rolle, um irgendeinen Einfluss zu nehmen. Und bin sehr zufrieden damit, in Bochum mit Studierenden zusammen zu sein. Es ist beeindruckend, wie diese Generation fragt und vorwärts denkt. Ich schätze es, mich nicht ständig zu allem äußern zu sollen.

Fehlt Ihnen etwas aus Ihrem früheren Leben?

Vielleicht, die schönen Festgottesdienste zu feiern. Aber manchmal habe ich diese Möglichkeit ja.

In Ihrem Buch schreiben Sie, Sie hatten große Sehnsucht nach Stille, nach Leben, vielleicht auch schon vor dem Rücktritt. Hat Sie diese Sehnsucht möglicherweise auch mit zu diesem Rücktritt bewegt?

Ich habe kein Fehlverhalten provoziert, um zurücktreten zu können. Aber jemand in solch einem öffentlichen Amt steht unter enormem Druck, alles ist getaktet. Da sehnt man sich schon mal nach einem selbst bestimmten Leben. Aber ich war sehr gerne Bischöfin und Ratsvorsitzende. Mir war auch immer wichtig, dass eine Frau diese Ämter ausüben kann.

Wie leicht macht es die Gesellschaft Menschen in öffentlichen Ämtern, nach Fehlern und einer Auszeit zurückzukommen?

Nicht jeder will überhaupt zurückkommen. Aber jeder muss Fehler machen dürfen, alles andere würde dem christlichen Menschenbild widersprechen. Wichtig ist, offen mit Fehlern umzugehen, zu sagen, ich bin kein Idol, keine Kultfigur, die über den anderen steht.

Sind wir zu streng, wenn Menschen in herausgehobenen Ämtern Fehler machen?

Menschen mit Erfolg wird schon manchmal mit Häme begegnet, wenn man sieht, dass sie auch nicht anders, nicht besser sind. Aber es wird auch verziehen, wenn jemand zu seinen Fehlern steht. Das habe ich selbst erlebt.

Das Gespräch führten Claudia Keller und Juliane Schäuble. Das Foto machte Thilo Rückeis.

ZUR PERSON

BODENSTÄNDIG
Margot Käßmann wurde als jüngste von drei Töchtern eines Kraftfahrzeugschlossers und einer Krankenschwester in Marburg geboren. Von der Mutter hat sie Disziplin und Zielstrebigkeit geerbt, vom Vater Lebenslust und Humor.

MUTIG
Wegducken ist nicht ihre Sache. Mit 41 Jahren wurde sie Bischöfin in Hannover, mit 51 Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Nach einer Alkoholfahrt im Februar 2010 reagierte sie rasch und trat von allen Ämtern zurück. Jetzt ist sie Gastprofessorin in Bochum.

BELIEBT
Mit ihrer Offenheit spricht die kleine Frau sehr viele Menschen an. Ihre konsequente Art, mit Fehlern umzugehen, hat ihr zusätzlich viel Respekt eingebracht.

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