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Hunderttausende Kurden wurden von den türkischen Sicherheitskräften aus ihren Siedlungsgebieten im Südosten des Landes vertrieben.

© picture alliance / dpa

Menschenrechte: UN werfen der Türkei Verbrechen an Kurden vor

Zerstörung, Vertreibungen, Zwangsmaßnahmen und Tötungen: Die Vereinten Nationen beschreiben die Verbrechen im Südosten der Türkei.

Vor dem geplanten Referendum über eine Verfassungsreform in der Türkei am 16. April haben internationale Organisationen die Zustände im Land scharf kritisiert. Die Vereinten Nationen werfen Ankara schwere Menschenrechtsverletzungen im mehrheitlich von Kurden bewohnten Südosten vor. Der Europarat warnt angesichts der Machtfülle, die sich Präsident Recep Tayyip Erdogan in die Verfassungsänderung schreiben ließ, vor der Etablierung eines autoritären Ein-Mann-Regimes. Die Reformvorschläge würden nicht dem Modell eines demokratischen Präsidialsystems entsprechen. Bei einem Besuch in Moskau erhielt Erdogan vom russischen Präsidenten Wladimir Putin jedoch Signale, dass die Spannungen zwischen beiden Ländern überwunden sind. Als Zeichen der Wiederannäherung lockerte die russische Regierung ein Einfuhrverbot für Obst und Gemüse aus der Türkei.

Was wirft die UN der Türkei vor?

Den türkischen Sicherheitsbehörden werden in dem am Freitag veröffentlichten Bericht des UN-Menschenrechtsbüros schwere Rechtsverletzungen beim Vorgehen gegen Kurden im Südosten des Landes vorgeworfen. Dort hätten die Streitkräfte zwischen Juli 2015 und Dezember 2016 ganze Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht und bis zu einer halben Million Menschen vertrieben. Von rund 2000 Todesopfern – 1200 kurdischen Kämpfern und Zivilisten und 800 Soldaten und Polizisten – ist die Rede.

Wie reagiert die Türkei darauf?

Aus Sicht der Regierung in Ankara handelte es sich um ein gerechtfertigtes und angemessenes Vorgehen gegen Terroristen, doch der UN-Bericht beklagt großflächige Zerstörungen und zählt mutmaßliche Verbrechen der Sicherheitskräfte auf, zu denen Folter und „Verschwindenlassen“ von Verdächtigen gehören. UN-Menschenrechtskommissar Seid Ra’ad Al Hussein kritisierte zudem, dass es trotz vieler Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen offenbar keine einzige Festnahme und kein einziges strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte gegeben habe.

Was wirft der Europarat der Türkei vor?

In einer am Freitag angenommenen Stellungnahme hat die sogenannte Venedig-Kommission vor einem „Ein-Personen-Regime“ in der Türkei gewarnt. Die von Präsident Recep Tayyip Erdogan geplante Verfassungsreform beseitige die in einer Demokratie notwendigen Kontrollinstanzen, lautet das Urteil der Kommission. In der Venedig-Kommission sitzen unter anderem Fachleute für Verfassungs- und Völkerrecht sowie Verfassungsrichter. Das Gremium gehört zum Europarat, einer internationalen Organisation mit 47 Mitgliedstaaten von Portugal über die Türkei bis Russland. Die Einschätzung der Venedig-Kommission zur Verfassungsreform gilt als wichtige Richtschnur für EU-Mitgliedstaaten wie Deutschland, aber auch für die EU-Kommission.

Die Verfassungsexperten warnen zudem davor, dass die Verfassungsreform, über die am 16. April in einem Referendum abgestimmt wird, einem autoritären Präsidentialsystem den Weg ebne. So wird kritisiert, dass der Präsident nach der Verfassungsänderung allein über die Ernennung und Entlassung von Ministern und hohen Beamten entscheiden wird. Kritisch sehen die Experten auch, dass Erdogan künftig die Möglichkeit haben soll, das Amt eines Parteichefs auszuüben, und damit könne er einen übermäßigen parteiischen Einfluss auf die Gesetzgebung ausüben.

Nach der Auffassung der Venedig-Kommission hat die Tatsache, dass der Staatschef künftig bei jedem beliebigen Anlass das Parlament auflösen kann, nichts mit Demokratie zu tun. Sorgen bereitet dem Europarat zudem die Justiz, deren Unabhängigkeit und Fähigkeit zur Kontrolle der Exekutive weiter geschwächt werde.

Die Kommission kritisierte auch Mängel bei der Abstimmung im Parlament in Ankara im Januar, durch die das Verfassungsreferendum überhaupt erst möglich geworden war. Die Abgeordneten der Regierungspartei AKP waren dabei gezwungen, ihre Stimme offen abzugeben. An der Abstimmung konnten mehrere Abgeordnete der zweitgrößten Oppositionspartei nicht teilnehmen, weil sie im Gefängnis saßen. Schließlich kamen die Europarats-Experten zu den Schluss, dass das Referendum besser nicht während des gegenwärtigen Ausnahmezustandes abgehalten werden sollte.

Wie reagiert Erdogan auf Druck von außen? Ist er Akteur oder Getriebener?

Der türkische Präsident ist in jüngster Zeit nicht gut zu sprechen auf die Kritik internationaler Organisationen an den Missständen in seinem Land. Erdogan und seine Regierung sehen Einsprüche des Westens – etwa wegen der Massenfestnahmen nach dem Putschversuch im Juli vergangenen Jahres oder der Inhaftierung von Journalisten – als Versuch, die Türkei durch ungerechtfertigte Vorwürfe in die Defensive zu drängen. Auch von einem großen Einfluss des Erdogan-Erzfeindes, des islamischen Predigers Fethullah Gülen, auf Länder wie Deutschland ist mitunter die Rede.

Gleichzeitig gerät Erdogan aber wegen seiner Außenpolitik zunehmend in Bedrängnis. So verstrickt sich die Türkei immer tiefer in den Bürgerkrieg im benachbarten Syrien und gerät wegen des belasteten Verhältnisses zur EU im Westen mehr und mehr in die Isolation. Deshalb bemüht sich Erdogan zunehmend um Kontakte zu anderen Akteuren, etwa zum russischen Präsidenten Wladimir Putin, den er am Freitag in Moskau traf.

Worum ging es bei Erdogans Treffen mit Putin?

Bei diesem Besuch musste Erdogan keine Kritik am Vorgehen türkischer Behörden gegen seine Gegner fürchten. Mit dem russischen Präsidenten verbindet den türkischen Staatschef ein autoritärer Regierungsstil und zunehmend auch eine ähnliche Haltung gegenüber dem Westen. Trotz unterschiedlicher Interessen im Syrien-Konflikt und vorübergehender heftiger Spannungen, bemühen sich beide Länder inzwischen um Zusammenarbeit. Putin lobte diese Kooperation als effektiv und betonte, einen so vertrauensvollen Dialog Russlands mit der Türkei über Syrien habe niemand erwartet.

Tatsächlich war das Verhältnis der beiden Staaten Ende 2015 in eine tiefe Krise geraten, nachdem die Türkei eine russische Militärmaschine über Syrien abgeschossen hatte. Doch die Spannungen von damals sind heute weitgehend beigelegt. Am Freitag verkündete Moskau, dass fast alle im Gegenzug verhängten Importverbote für Gemüse aus der Türkei aufgehoben seien. Im Syrien-Konflikt wollen sich beide Länder nun als unverzichtbare Akteure präsentieren, ohne die ein Ende des Krieges und eine Lösung des Konflikts nicht möglich ist. Vor einigen Tagen trafen sich die Generalstabschefs der Türkei, Russlands und der USA in Antalya, um über das militärische Vorgehen in Syrien sowie im Irak zu beraten. Ein solches Treffen wäre noch vor Kurzem kaum denkbar gewesen. Erdogan und Putin wollten auch über gemeinsame Wirtschaftsprojekte sprechen, besonders die geplante Pipeline Turkish Stream, die russisches Erdgas durch das Schwarze Meer in die Türkei bringen soll. Von dort aus könnte ein Teil der Lieferungen weiter in die Europäische Union transportiert werden – ein lukratives Geschäft für Moskau und Ankara.

Hat Erdogan die Lage innenpolitisch im Griff?

Glaubt man den Umfragen regierungsnaher Institute, ist die Mehrheit für die Umstellung auf Erdogans Präsidialsystem durch die Volksabstimmung am 16. April nicht gefährdet. Neben der Regierungspartei AKP wirbt auch die Führung der rechtsnationalen Partei MHP für das Projekt, das Erdogan einen erheblichen Machtzuwachs bescheren würde. Notwendig ist die Zustimmung von mehr als 50 Prozent der Wähler.

Allerdings legen einige Befragungen nahe, dass sich die Begeisterung für die Präsidialrepublik selbst unter AKP-Anhängern sehr in Grenzen hält. Laut einer am Freitag von der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ zitierten Umfrage wollen mehr als 57 Prozent der Türken den Plan Erdogans ablehnen. Im Wahlkampf beschimpfen Erdogan und Regierungspolitiker die Anhänger des „Nein“-Lagers als Vaterlandsverräter und Helfer der Terroristen.

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