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Shake-hands mit der Zukunft. Angela Merkel sagt: Soziale Gerechtigkeit gibt es nicht ohne Innovation.

© Michael Kappeler/dpa

Merkel, Schulz und soziale Gerechtigkeit: Alles muss sich ändern!

Soziale Gerechtigkeit ohne Innovation kann es nicht geben, hat Angela Merkel gesagt. Warum sie recht hat, und was das mit den Gilmore Girls zu tun hat. Ein Essay.

Ein Essay von Anna Sauerbrey

Am 2. April hat Angela Merkel auf dem Parteitag der NRW-CDU in Münster den SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz frontal angegriffen. „Die Sozialdemokraten“, sagte Angela Merkel, „sind in der Vergangenheit verhangen. Sie reden über Gerechtigkeit, aber vergessen, dass Gerechtigkeit ohne Innovation nicht klappt. Gerechtigkeit und Innovation muss es heißen“, sagte die Kanzlerin. „Die Zukunft sich aneignen, in die Zukunft schauen“, das sei zentral.

Merkels Attacke zielt auf den Kernkonflikt dieses Wahlkampfes: Konkret geht es um den Streit, wie „gerecht“ die Agenda 2010 war und ob Reformen daran im Sinne der sozialen Gerechtigkeit nötig sind. Dahinter aber steht eine grundsätzlichere Frage: Was ist eigentlich soziale Gerechtigkeit? Und in welchem Verhältnis stehen soziale Gerechtigkeit und Innovation? Wie gerecht ist progressive, also auf Innovationen, Fortschritt, die Zukunft gerichtete Politik? Und gibt es eine Gerechtigkeit ohne Innovation? Es lohnt sich, darüber nachzudenken. Diese Fragen bestimmen nicht nur den beginnenden Wahlkampf. Es sind die Kernfragen des populistischen Zeitalters.

Die Gilmore Girls bringen das Dilemma progressiver Politik auf den Punkt

In der amerikanischen Serie „Gilmore Girls“ gibt es eine Szene, die das Dilemma der progressiven Politik auf den Punkt bringt. Die Serie spielt in einer fiktiven Kleinstadt in Amerika, Stars Hollow. Stars Hollow ist sehr hübsch und sehr beschaulich. Die Bewohner sind nicht reich, aber es geht ihnen gut. Eine der beiden Hauptfiguren ist Lorelai Gilmore, eine Endvierzigerin, die in der Stadt eine kleine Pension führt. Als in einem Nachbarort ein Film gedreht wird, buchen nur die B-Schauspieler ein Zimmer bei ihr, während die Promis das größere Hotel im Nachbarort wählen. Dort gebe es eben Roomservice, einen Fitnessraum und Minikühlschränke auf den Zimmern, zählt Lorelais ehrgeiziger und perfektionistischer Mitarbeiter Michel leicht hysterisch auf. Michel fordert, Lorelai müsse die Pension vergrößern und verändern, um gegen die Konkurrenz im Nachbarort dauerhaft Chancen zu haben. „Es geht heute nicht mehr ohne Minikühlschränke!“

Die Serie führt das zunächst nicht weiter aus, aber Lorelais Optionen liegen auf der Hand: Will sie investieren, um das Hotel konkurrenzfähig zu machen, muss sie das Geld aufbringen, zum Beispiel, indem sie die Löhne ihrer Mitarbeiter kürzt. Das fänden ihre Mitarbeiter sicher ungerecht. Verändert sie aber nichts, riskiert sie, dass bald immer mehr Gäste im Nachbarort übernachten – und ihr Hotel am Ende schließen muss, womit ihre Mitarbeiter ihr Einkommen ganz verlieren würden.

Die Szene zeigt: Die ständige Veränderung der Welt macht progressive Politik nötig. Aber progressive Politik ist auch mit Kosten verbunden, die dem Einzelnen ungerecht erscheinen.

Angela Merkel argumentiert wie die SPD von gestern, Martin Schulz legt wenig Wert auf morgen

Die Widersprüche in der Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit, wie sie derzeit bei Martin Schulz und Angela Merkel zu erkennen sind, könnte man auf eben dieses Dilemma progressiver Politik zuspitzen: Wie viel muss Politik in einer gerechten Gesellschaft in den Fortschritt, also in die Chancen und eine gerechte Gesellschaft von morgen investieren – und wie viel in Chancen und gerechte Sicherheit gerade jetzt, in diesem historischen Augenblick? Das ist auch der Kern der Auseinandersetzung der SPD mit jener Vergangenheit, die Merkel adoptiert hat.

„Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit“, in dieser Reihenfolge, stand über dem von Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine geprägten SPD-Wahlprogramm von 1998 (zum Pdf auf den Seiten der Friedrich Ebert Stiftung). Einer der zentralen Sätze war: „In einer Welt des Wandels kann nicht alles bleiben, wie es ist.“ Dieser Satz formuliert das Paradigma progressiver Politik. „Wenn wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bestehen wollen“, hieß es 1998 weiter, „dann müssen wir bereit sein zu Innovationen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft.“ Das würde Angela Merkel sicher auch unterschreiben. Sie unterstellt mit ihrem Münsteraner Satz sogar, dass eine Gesellschaft nur dann sozial gerecht ist, wenn sie in die Zukunft investiert.

Anna Sauerbrey leitet das Meinungsressort des Tagesspiegels.
Anna Sauerbrey leitet das Meinungsressort des Tagesspiegels.

© Kai-Uwe Heinrich

Tatsächlich hat Martin Schulz in seinen bisherigen Reden und Programmpapieren andere Schwerpunkte gesetzt. Er setzt weniger auf die Zukunft als auf die Absicherung und den Ausgleich zwischen den Menschen von heute. Das bisschen Zukunft, für das er Gerechtigkeit schaffen will, ist ganz nah: Es ist die Zukunft der heute lebenden Kinder, für die er bessere Bildungschancen fordert. Es sind nicht die Chancen dieser Kinder, wenn sie 65 werden, oder die Chancen der Kinder dieser Kinder. Statt die Menschen zu Veränderungen zu drängen, will er das gerecht honorieren, was Menschen schon geleistet haben. „Lebensleistung“ und „Respekt“ sind zentrale Begriffe seiner bisherigen Reden. Auf bereits Erbrachtes zielen seine Forderungen nach „gerechten Löhnen“, ein längeres Arbeitslosengeld, mehr Geld für Familien, mehr Sicherheit durch mehr Polizei und bezahlbare Wohnungen. „Im Kern geht es darum, dass wir unsere Gesellschaft zusammenhalten“, sagt Schulz. Hier und jetzt, könnte man ergänzen.

Welcher der beiden Ansätze ist gerechter?

Warum Angela Merkel recht hat und soziale Gerechtigkeit Innovation braucht

Der amerikanische Philosoph John Rawls (1921-2002) definiert in seinem Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ zwei grundsätzliche Bedingungen für eine sozial gerechte Gesellschaft. Die erste: Alle müssen das gleiche Recht auf gleiche Grundfreiheiten haben. Die zweite: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind nur dann gerecht, wenn „vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen“. Konkret heißt das: Einkommens- und Vermögensungleichheit sind nur dann zulässig, wenn insgesamt alle davon profitieren, wenn also zum Beispiel die Produktivität und damit der Wohlstand einer Gesellschaft steigt, indem Arbeitnehmer um höhere Löhne konkurrieren. Rawls wandte sich mit seinem Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ außerdem explizit gegen ein Denken, das das Wohl der Allgemeinheit über das Wohl des Einzelnen stellt. „Sie (die Gerechtigkeit) gestattet nicht, dass Opfer, die einigen wenigen auferlegt werden, durch den größeren Vorteil vieler anderer aufgewogen werden.“

In diesen Sätzen steckt das moralische Dilemma progressiver Politik. Auf der einen Seite scheint es intuitiv offensichtlich, dass Fortschritt und Veränderungen notwendig sind, schließlich kommt es selbst bei den Gilmore Girls zu Veränderungen, die Innovationen erfordern. Rawls Theorie, reduziert auf diese kurzen Sätze, hieße aber, dass auf die Zukunft gerichtete Politik nur dann gerecht ist, wenn heute niemand dabei verliert.

Die zentrale Frage des populistischen Zeitalters lautet: Wie geht man mit dem Gewöhnungsschmerz um?

Eigentlich verliert immer jemand, wenn sich die Welt weiterdreht. Progressive Politik wird oft begleitet von echten, materiellen Verlusten – etwa weil ein Staat Haushaltsmittel für Glasfaserkabel und Roboterforschung ausgibt statt für soziale Sicherung – oder weil Lorelai Gilmore in Minikühlschränke investiert. Veränderung wird aber auch von kulturellen Verlusten begleitet, die gerade im Zeitalter des Populismus nicht minder schwer wiegen. Sie sind die eigentliche Ursache der Krise progressiver Politik in Deutschland.

Bei den Gilmore Girls bespricht Lorelai mögliche Innovationen in ihrer Pension mit ihrem Freund Luke, einem Gemütsmenschen, der in der Kleinstadt seit Jahrzehnten das einzige Diner betreibt. Vielleicht, sagt Lorelai, habe ihr Mitarbeiter ja recht, und es müsse sich etwas ändern. Luke wird daraufhin wütend. Verzweifelt ruft er aus: „Warum müssen sich die Dinge ständig ändern?!“

Viele Menschen sind wie Luke. Sie empfinden Veränderungen als Zumutung – und rein subjektiv betrachtet sind sie das ja auch. In der „Welt des Wandels, in der nichts bleiben kann, wie es ist“, müssen sich die Menschen ständig neu gewöhnen. Sich Gewöhnen aber ist eine Krise. Zwischen der alten Gewohnheit und der neuen Gewohnheit liegt ein aufgewühlter Raum der Ungewissheit, in dem Angst entsteht und – wie bei Luke – ein unbestimmtes Gefühl der Empörung und der Ungerechtigkeit. Die Grausamkeit der Gewöhnung und ein subjektives Ungerechtigkeitsgefühl bei Veränderungen sind der Preis des Progressiven, die Nahrung des Populismus und die Kosten, die der Einzelne bezahlt, um den Wohlstand der Menschen von morgen zu sichern.

Wird die Grausamkeit der Gewöhnung nicht gemildert, machen objektive und subjektive Ungerechtigkeiten die Menschen revolutionsmüde. An diesem Punkt befinden wir uns gerade. Nach der Wiedervereinigung, der Digitalen Revolution, der Globalisierung, dem Wandel zu einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft ist das subjektive Ungerechtigkeitsgefühl, das durch den Gewöhnungsschmerz entsteht, groß – obwohl die progressive Politik der Nachwendezeit ja eigentlich das bewirkt hat, was sie soll: Wirtschaftlich geht es dem Land insgesamt gut und den meisten besser. Nur fühlt es sich eben nicht so an.

Deutschland ist innovationsmüde

Populistische Bewegungen von links wie von rechts haben deshalb großen Erfolg damit, das Paradigma progressiver Politik infrage zu stellen: die Unabwendbarkeit der Veränderung der Welt. „Die Menschen in unserem Land wissen aus ihrem täglichen Leben, dass Veränderungen notwendig sind, um die Chancen der neuen Zeit zu nutzen“, behauptete das SPD-Wahlprogramm von 1998. Heute kann man mit ziemlicher Gewissheit sagen: Die Menschen wissen vor allem, dass Innovation wehtut. Martin Schulz will die Veränderung zwar nicht aufhalten – wie Donald Trump, aber er verspricht, den Gewöhnungsschmerz des Fortschritts zu mildern. Sein Erfolg spricht dafür, dass viele Menschen die Umrisse seines Programms als gerecht empfinden.

Progressive Politik wird derzeit also von links wie von rechts infrage gestellt. Und tatsächlich ist es ungleich schwieriger, sie gerechtigkeitstheoretisch zu begründen – das gibt auch Rawls zu. Dennoch gelingt es ihm, die Gerechtigkeit zwischen den Generationen und die Notwendigkeit von Investitionen in die Zukunft zu begründen.

Dazu erweitert Rawls ein Gedankenexperiment, das die Grundlage seiner Theorie bildet: Auf welche Regeln würden sich vernünftige, rationale, freie und gleiche Bürger bei der Gründung einer Gesellschaft verständigen, welchen Regeln würden alle zustimmen, wenn es die Gesellschaft noch nicht gäbe? Rawls stellt sich einen „Urzustand“ vor, in dem noch keiner weiß, welchen Platz ihm die „Lotterie der Natur“ in der Gesellschaft zuweisen wird. Jeder stimmt dann den Regeln zu, die in seinem ureigenen Interesse liegen, egal, ob er später eher oben oder eher unten landet. Alle müssen sich einig sein. Wenn wir außerdem im „Urzustand“ nicht wüssten, zu welcher Zeit wir leben – gestern, morgen oder heute, so Rawls, würden wir für Regeln stimmen, die das Wohl aller Generationen begünstigen.

Wenn wir ohne Wissen um den Zeitpunkt unserer Geburt entscheiden müssten: Wir wären für Innovationen

Für Lorelai Gilmores Mitarbeiter im Urzustand sähe die Rechnung so aus: Entscheidet er sich gegen Investitionen in Minikühlschränke, würde er im schlimmsten Fall nach dem wirtschaftlichen Aus der Pension geboren und hätte dann gar kein Einkommen. Entscheidet er sich für Investition in Minikühlschränke, müsste er im schlimmsten Fall einige Zeit mit Lohneinbußen leben. In seinem eigenen Interesse würde er sich also für Investitionen entscheiden, weshalb das Vorgehen nach Rawls als gerecht gelten kann. Ähnlich ließe sich auch für das Sparen, für Umweltschutz oder Forschung argumentieren. Tatsächlich ist es ja auch so, dass wir von den Innovationsbemühungen und dem Sparen unserer Vorgängergenerationen profitieren und unseren heutigen Lebensstandard nur deshalb haben, weil andere Generationen in die Zukunft investiert haben. Wir profitieren davon, dass sie verzichtet haben – auf materiellen Wohlstand, aber auch auf ihre Gewohnheiten.

Dennoch hat die Gerechtigkeit der progressiven Politik etwas Kühles. Es ist eine Sache, gerechte Politik theoretisch zu begründen. Zur Durchsetzung gerechter Politik allerdings sind Politiker auf die gefühlte Gerechtigkeit ebenso angewiesen wie auf die Gerechtigkeit an sich. Die Entrüstung über die ständige Weigerung der Welt, mit dem Sich-Verändern aufzuhören, ist ein Gefühl, an dem auch progressive Politik nicht vorbeikommt, will sie gegen den Populismus bestehen und sich am Ende zum Nutzen aller durchsetzen. Martin Schulz spricht allen aus dem Herzen, die wie Luke aus der Gilmore-Girls-Stadt Stars Hollow an der Nimmermüdigkeit der Welt verzweifeln. Es ist richtig, die Zumutungen des Fortschritts zu mildern. Doch Merkel hat recht: Wenn die Innovation am Ende auf der Strecke bleibt, bleibt später auch die soziale Gerechtigkeit auf der Strecke.

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