zum Hauptinhalt
Flüchtlingsunterstützer bei einer Demonstration in der Nähe einer Asylbewerberunterkunft in Dresden.

© dpa

Mythen über Migration: Deutschland war schon immer ein Einwanderungsland

Die deutschen Gedächtnislücken beim Thema Migration gefährden die Zukunft. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Andrea Dernbach

Grenzdurchgangslager Friedland – wem dieser Name überhaupt noch etwas sagt, der verbindet es mit sehr deutschen Geschichten und Bildern: Der Ort für den Empfang der letzten Wehrmachtssoldaten, die die Sowjetunion Mitte der 1950er Jahre aus der Kriegsgefangenschaft entließ, die erste Anlaufstelle für deutschstämmige Aussiedler. Das stimmt so, aber es erzählt nicht die ganze Geschichte. Anders als im kollektiven deutschen Gedächtnis abgespeichert, war die Barackopolis nahe dem Dorf Friedland bei Göttingen nie ein rein deutscher Ort: Ab 1945 nahm sie auch alle anderen auf, die der Weltkrieg versprengt hatte: Displaced persons, Soldaten, Vertriebene, Geflüchtete vieler Nationalitäten. 1956 und 1957 kamen nach der Niederschlagung des Aufstands in ihrem Land 3500 Ungarn, nach dem Putsch Pinochets 1973 eine Gruppe chilenischer Flüchtlinge. Von den 35 000 vietnamesischen Flüchtlingen nach Ende des Vietnamkrieges 1975 landeten 4500 zuerst dort.

Die große Lüge bedurfte des Wegschauens

Diese andere Geschichte erzählt seit letztem Jahr das neue Museum Friedland in einer Dauerausstellung. Wer im Ausstellungskatalog liest, stößt unwillkürlich auf Parallelen zum bundesdeutschen Umgang mit Flucht und Migration insgesamt und den Mythen und Lücken in der kollektiven Erinnerung. Der großen Lebenslüge, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, entsprach die kleine von Friedland als „Symbol deutscher Not“, zu dem die Lagerchronik es verklärte. Für die große Lüge war Wegschauen nötig, für die kleine Verschweigen: Über die Nichtdeutschen, seit den 80er Jahren auch immer mehr Asylsuchende, verlor die Chronik schlicht kein Wort, die Medien kaum eines. Nur die Vietnamesen wurden – vor kommunistischer Herrschaft geflohen – Teil des Gedenkens. Friedland war schlechthin der „Ort bundesdeutscher Kriegsfolgenbewältigung und…. deutschen Opferdiskurses“, schreiben die Ausstellungskuratoren Joachim Baur und Lorraine Bluche im Vorwort zum Katalog. Was dazu nicht passte, wurde passend gemacht. Den ausländischen Insassen war zeitweise sogar das Betreten der „deutschen“ Teile des Lagers verboten, Kontakte wurden nach Möglichkeit erschwert. „Ausnahmsweise und vorübergehend“, so ein Ministerialprotokoll von 1974, ließ Niedersachsens Landesregierung immer wieder ausländische Geflüchtete zu – die Ausnahme waren Tausende Menschen. Seit 2011 ist Friedland Asyl-Erstaufnahmeeinrichtung.

Auch die Männer aus Europas Süden lösten massive Kulturpanik aus

In Friedland wurde also Geschichte in mehrfacher Hinsicht „gemacht“. Das muss man nicht bedauern, jede Generation wirft neue Blicke zurück, hat andere Fragen an die Vergangenheit. Die Geschichte des Einwanderungslandes Deutschland allerdings ist teils noch unaufgearbeitet, teils noch zu wenig ins nationale Gedächtnis eingesickert. Das betoniert die Mythen und trübt den Blick. Beispiel Gastarbeiter: Aber das waren doch Europäer, heißt es da gern, das war etwas ganz anderes. Wer italienische VW-Arbeiter der ersten Stunde befragt oder ein Zeitungsarchiv, wird eines Schlechteren belehrt: Auch die jungen Männer aus Europas Süden, die sich sonntags am Bahnhof trafen, nein „zusammenrotteten“, lösten massive Kulturpanik aus, wurden beleidigt und mit pauschalen Lokalverboten belegt. Oder die Ankömmlinge aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg Anfang der 1990er. Damals sprach Kanzler Kohl vom Staatsnotstand. Und jetzt? Ein Lehrer, der als Junge aus dem Kosovo kam, berichtete kürzlich in der „taz“, wie man ihm heute jovial versichere, er sei doch ganz anders als die heutigen Flüchtlinge. Auch seine Erinnerung straft die der anderen Lügen. Und der Anfang des Mythos, die Vertriebenen, immerhin 12,5 Millionen bis 1950? Auch sie waren, klar, „ganz anders“, nämlich deutsch. Dass die Landsleute, in deren Trümmerwohnungen sie einquartiert wurden, sie gründlich verabscheuten, dass evangelische Pommern am katholischen Rhein und katholische Schlesier im lutherischen Kernland so beliebt waren wie heute Muslime, dass die Dialekte der Neuen massiv Fremdheit und Ablehnung auslösten – das weiß nur noch die Generation der ganz Alten und ist nur ausnahmsweise noch Gegenstand von Tischgesprächen.

Diese himmelblauen Mythen über Vergangenheit sind für die Angst vor der Zukunft mindestens mitverantwortlich. Die falschen Erzählfetzen über Migration dürften noch stärker wirken, wenn die AfD sie demnächst vom Redepult des Bundestags aus verbreitet. Nicht nur über Friedland: Wir brauchen endlich mehr von der ganzen, der richtigen Geschichte.

Zur Startseite