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Bye-bye EU. Großbritanniens Premierministerin Theresa May nach ihrer Rede in London.

© AFP

Nach Brexit-Rede von Theresa May: Wie weit entfernt sich Großbritannien von der EU?

Premierministerin Theresa May hat ihren Fahrplan für den Brexit skizziert. Ihre Rede, die Position Europas, der Kurs von Kanzlerin Angela Merkel: Eine Analyse mit Fragen und Antworten.

Ganz so hart soll der Brexit also doch nicht sein. Die britische Premierministerin Theresa May hat sich bei ihrer mit Spannung erwarteten Rede am Dienstag das eine oder andere Türchen offen gelassen. Es soll keinen abrupten, übergangslosen Austritt geben. May will einen „smooth Brexit“, wie sie bei ihrem Auftritt vor Diplomaten im Lancaster House in London sagte, einer einstigen Adelsresidenz, die heute vom Außenministerium genutzt wird. Also von jenem Ministerium, in dessen Name noch der einstige weltpolitische Anspruch Großbritanniens anklingt: Foreign and Conmmonwealth Office.

Auf diese Vergangenheit will May den künftigen Wohlstand Britanniens bauen, als einer „wahrhaft globalen Nation“, die mit der ganzen Welt Freihandel betreibt. Doch zu den engsten Partnern sollen weiterhin die Mitglieder der Europäischen Union gehören. Denn Brexit-Votum hin oder her: In mehr als 40 Jahren EU-Mitgliedschaft ist das Königreich so stark in die europäische Arbeitsteilung integriert worden, wurde die Wirtschaft des Landes so stark verwoben mit denen der EU-Partner, dass ein harter Bruch ohne gravierende Folgen für beide Seiten gar nicht möglich ist.

Welchen Brexit strebt May an?

Dass ihre Regierung einen ganz eigenen Weg gehen will, das hatte die Premierministerin schon im Herbst durchblicken lassen. Damit waren das Norwegen-Modell (Mitgliedschaft im Binnenmarkt mit allen Rechten und Pflichten, darunter die Anerkennung der Freizügigkeit von EU-Staatsangehörigen) und das Schweizer Modell (enge Einbindung über eine Vielzahl von Einzelvereinbarungen) vom Tisch. Auch die Türkei-Variante – die volle Mitgliedschaft in der Europäischen Zollunion ohne EU-Mitgliedschaft – passt nicht zum eigenen Weg, zur maßgeschneiderten Lösung.

Was May nun anstrebt, ist ein schrittweiser, möglichst reibungsloser Übergang zu einem bilateralen Handels- und Wirtschaftsabkommen mit der EU, das ganz pragmatisch gestaltet und entsprechend verhandelt werden soll – zum Besten beider Seiten, wie die konservative Regierungschefin mehrfach beteuerte. Aus Londoner Sicht bedeutet das, möglichst viele Vorteile der EU und des Binnenmarktes nutzen zu können. Auf diesem Weg soll es keinen Klippenrand geben, über den man in die Tiefe stürzen kann – also keinen Zeitpunkt, an dem die EU-Mitgliedschaft endet, ohne dass eine Übergangsregelung beschlossen wäre.

Hier hat sich May nun selbst unter Zeitdruck gesetzt. Sie hat, was nicht unfair ist gegenüber der EU, eine unbegrenzte Übergangsphase ausgeschlossen. Man wolle nicht in einem „permanenten politischen Fegefeuer“ schmoren, sagte sie. Innerhalb der zweijährigen Verhandlungen zum Austritt aus der EU soll auch eine "Vereinbarung über unsere künftige Partnerschaft" erreicht werden. Und daran soll sich die Übergangsphase anschließen. Sie soll der Wirtschaft Zeit geben, sich auf die neuen Realitäten einzurichten, und der Politik ermöglichen, Stabilitätsrisiken auszuräumen.

In dem Zusammenhang wird der zollfreie Waren- und Dienstleistungsverkehr eine zentrale Rolle spielen. Der ist wichtig vor allem für Industrien, die EU-weite Produktionsketten nutzen, etwa die Auto-Branche. Doch eine Zollunion mit der EU verträgt sich nicht mit dem Streben nach bilateralen Handelsabkommen mit dritten Staaten, mit China, Indien, den USA, mit Staaten des einstigen Empires – und die sind ein Kern des neuen britischen Geschäftsmodells, wie es vor allem Brexit-Hardliner anstreben.

May blieb hier seltsam vage: Zwar will und kann sie den EU-Außenzoll nicht mehr anwenden, aber sie plädierte für eine Zollvereinbarung mit der EU, deutete sogar eine assoziierte Mitgliedschaft in der Zollunion an oder branchenbezogene Einzelverträge. Das zeigt, wie sehr May sich der Bedeutung eines zollfreien Handels mit der EU bewusst ist.

Welche Rolle spielt die Zuwanderung?

Wie erwartet, hat May ein Ende der Freizügigkeit für EU-Bürger angekündigt – aber auch hier nicht mit der Vehemenz, die manche (auch in ihrem eigenen Parteilager) erwartet hatten. Großbritannien braucht laut May Zuwanderung, will aber Kontrolle haben über die „Zahlen“. Das deutet auf eine Obergrenze für Migration aus der EU und anderen Regionen hin. Man will in London selber bestimmen, wer zugelassen wird und wer nicht.

Aber quer durch alle Branchen – ob Krankenhäuser, Altenpflege, Saisonarbeit in der Landwirtschaft oder Hochschulen – ist das Königreich auf Migranten angewiesen. Entsprechend warb May dafür, bei der gegenseitigen Anerkennung des Status von EU-Bürgern in Großbritannien und von Briten in der EU zügig und pragmatisch zu einer Lösung zu kommen. Ein Signal an die EU-Partner sollte wohl auch sein, dass London an bestimmten EU-Projekten weiterhin teilnehmen und dafür auch zahlen will.

In welcher Position ist Großbritannien gegenüber der EU?

Mays entgegenkommende Rede ist ein weiteres Zeichen dafür, dass Großbritannien in einer Position der Schwäche verhandeln wird – und darauf setzt, dass die EU-Staaten das nicht zu sehr ausnutzen. Daher die Passagen in der Rede, in der sie sich dagegen verwahrt, dass Großbritannien für seine Entscheidung, die EU zu verlassen, "bestraft" werden könnte. Die jüngsten Hinweise (unter anderen von Schatzkanzler Philip Hammond), Großbritannien könne gezwungen sein, ein Steuerparadies für Unternehmen zu werden oder die Macht des Finanzplatzes London dagegenzuhalten, sind da eher leere Drohungen.

Der Ökonom Christian Odendahl vom Londoner Centre für European Reform sieht noch "schwierige Debatten" auf die Briten zukommen. "Einerseits verspricht May mehr nationale Kontrolle, ob nun bei der Zuwanderung oder bei der Justiz, andererseits will sie aber möglichst enge Handelsbeziehungen, die eben dieser nationalen Kontrolle wieder Grenzen setzen", sagte er dem Tagesspiegel. Die EU sei ja gerade der Versuch, "die Untiefen bilateraler Handelsabkommen durch eine supranationale Lösung zu umschiffen". Im Übrigen lehre die Erfahrung internationaler Handelsverträge, dass meist der stärkere Partner die Regeln setze. "Und das ist die EU", sagt Odendahl.

Zölle seien in einem künftigen Handelsabkommen nicht das Problem. Es gehe viel stärker um die Regeln des Marktzugangs und die Produktstandards. Die aber bestimme in starkem Maße die EU. "Und mit der Bedeutung des Finanzplatzes London lässt sich auch nicht lange wuchern. Auch hier wird die EU mittelfristig an Gewicht gewinnen."

Wie werden die übrigen 27 EU-Staaten jetzt agieren?

Die übrigen 27 EU-Staaten halten sich bislang bedeckt in der Frage, wie sie gemeinsam gegenüber London bei den Austrittsverhandlungen auftreten werden. Das nächste Treffen der EU-27 – ohne Großbritannien – ist am 3. Februar in Malta geplant. Bei dieser Gelegenheit wollen die bisherigen EU-Partner Londons ihre Strategie gegenüber der britischen Regierungschefin weiter festzurren.

Der maltesische Regierungschef Joseph Muscat, dessen Land derzeit den EU-Vorsitz innehat, hat die Devise ausgegeben, dass die EU zwar einerseits einen „fairen Deal“ mit London anstrebe. Aber die künftige Vereinbarung mit Großbritannien müsse „schlechter sein als die Mitgliedschaft“, hat Muscat bereits gefordert. Mit anderen Worten: Großbritannien kann aus der Sicht der EU beim Brexit nicht weiter sämtliche Vorteile der EU genießen – beispielsweise den vollen Zugang zum europäischen Binnenmarkt.

Im Detail kommt es aber einer Herkulesaufgabe gleich, eine gemeinsame Verhandlungslinie der EU-27 zu wahren. Wie unterschiedlich etwa die Vorstellungen über die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit sind, hat jüngst der österreichische Regierungschef Christian Kern deutlich gemacht. Der SPÖ-Politiker regte an, dass die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit in seinem Land in Branchen mit besonders hoher Arbeitslosigkeit eingeschränkt werden könnte. Im Grundsatz deckt sich das durchaus mit britischen Vorstellungen, die allerdings bei der Beschränkung der EU-Einwanderung sehr viel weiter gehen.

Erschwert werden dürften die Verhandlungen zwischen den EU-27 und Großbritannien durch den Wahlkalender: In diesem Jahr stehen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland Wahlen an. In den drei Ländern dürften die Brexit-Verhandlungen dadurch in den Hintergrund rücken.

In Brüssel laufen derweil alle Fäden bei dem Chefverhandler der EU-Kommission, dem Franzosen Michel Barnier, zusammen. Der ehemalige EU-Binnenmarktkommissar will sich bislang nicht in die Karten schauen lassen. „No negotiation without notification“ lautet sein Motto. Mit anderen Worten: Bevor May im März den britischen Scheidungsantrag bei der EU nicht eingereicht hat, wird es auch keine offiziellen Verhandlungen geben.

Ganz so knallhart, wie sich Barnier nach außen gibt, scheint er allerdings doch nicht zu sein: Nach einem Bericht des „Guardian“ ließ er in der vergangenen Woche im Gespräch mit EU-Abgeordneten durchblicken, dass es auch für die EU-27 wirtschaftliche Risiken beim Brexit gibt – nämlich bei einer Abkopplung des Londoner Finanzdistrikts, der für die Finanzierung der EU-Staaten eine wesentliche Rolle spielt.

Welchen Kurs verfolgt Kanzlerin Angela Merkel?

Ein entscheidendes Ziel für Merkel besteht darin, die politischen Zusammenhalt der EU-27 auch während der Brexit-Verhandlungen zu wahren. In der vergangenen Woche hatte die Kanzlerin in einer Rede in Brüssel gefordert, dass die EU-Staaten das Brexit-Votum zum Anlass nehmen sollten, „gemeinsam daran zu arbeiten, Europa jetzt erst recht zusammenzuhalten“.

Das Problem besteht allerdings darin, dass der Brexit dann einen Dominoeffekt in der EU auslösen könnte, wenn sich der britische Austritt als Erfolgsmodell herausstellen sollte. Deshalb ließ Merkel die Briten am Montagabend beim Neujahrsempfang der IHK Köln wissen, dass es für das Vereinigte Königreich mit wirtschaftlichen Nachteilen verbunden ist, wenn London die EU-Personenfreizügigkeit verwirft. Um diese Linie durchzusetzen, braucht Merkel indes die Unterstützung der deutschen Wirtschaft – denn neue Handelsbarrieren zwischen Großbritannien und dem Kontinent dürften auch hiesige Exporteure treffen.

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