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Demonstrant, der am Samstag für den Exit vom Brexit in London demonstrierte.

© AFP

Nach dem Brexit: Reformieren – oder untergehen

Das Europa der 27 muss umdenken, wenn es wieder ernst genommen werden will. Ein Plädoyer für mehr Offenheit, Transparenz und soziale Kompetenz.

Am Anfang vom Ende triumphierte dann doch noch der bitterschwarze britische Humor, obwohl kein einziger Engländer an der Aktion, um die es hier geht, beteiligt war: In einem Arbeitspapier, das in Brüssel für den Fall eines negativen Ausgangs der Abstimmung vorbereitet worden war, heißt es als Prämisse: p. m. Das steht für post mortem – nach dem Tod.

Ob der Brexit mehr als das langsame Dahinsiechen der britischen EU-Mitgliedschaft bedeutet, ob die Briten es sich innerhalb der Zwei-Jahres-Frist, die ihnen der Vertrag von Lissabon für die Austrittsverhandlungen gibt, vielleicht noch einmal anders überlegen und die 27 verbliebenen Europäer um Gnade bitten – da sollte man im Moment keine Prognosen wagen. Nein, im Moment geht es eher darum, ob sich die Europäische Union selbst mental auf das Läuten des Sterbeglöckleins vorbereiten sollte. Immerhin kommt dem Staatenbund mit dem Austritt Englands nicht nur 16 Prozent des Wirtschaftspotenzials abhanden, sondern die einzige verbliebene Weltmacht – liebe französische Nachbarn, das dürft Ihr nicht persönlich nehmen, aber Macht wird auch militärisch definiert, und da hat die Regierung Ihrer Majestät in den letzten 20 Jahren mehr investiert.

Die EU gilt als Projekt der Eliten

Das klingt widersprüchlich, ist es auch, denn außenpolitisch hat sich David Cameron gerade gedrückt, in der Ukraine, in der es auf Verhandeln, nicht auf Schießen ankam. Da überließ er Deutschland und Frankreich die Führungsrolle, wohl schon nach der Devise: Regelt das auf dem Kontinent mal unter- und miteinander – Britannien ist für die Welt zuständig, und die ist ja nur ein bisschen größer als das frühere Commonwealth of Nations, in dem man sich bis heute vom Glockenschlag von Big Ben anrühren lässt.

Dennoch, Deutschland mag ökonomisch eine Weltmacht sein, hoch angesehen, wie die wichtigsten Rankings bestätigen. Mag mit Frankreich zusammen immer noch die Antriebsachse Europas bilden, die gerne wieder bis nach Warschau verlängert werden kann, wenn Einverständnis über die Drehrichtung herrscht. Aber eine Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union ohne Großbritannien ist einfach ein Witz. Schon deshalb muss Europa umdenken, wenn es wieder ernst genommen werden will. Muss entschiedener werden, mutiger, nicht so ambivalent.

Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist ohne die Insel ein Witz

Wieder ernst genommen – im Moment nimmt niemand dieses Bündnis der Noch-28 ernst, dazu ist es zu zerstritten, unfähig, seine eigenen Krisen beizulegen. Die EU ist nicht in der Lage, ihre Außengrenzen zu kontrollieren. Sie hat die Durchlässigkeit der Binnengrenzen noch zu einem Zeitpunkt als positive Folge des Schengenabkommens interpretiert, als diese Freizügigkeit längst vieltausendfach von Nicht-EU-Bürgern, von Flüchtlingen, ausgenutzt worden war. Europa ist unfähig, die Lasten aus der Flüchtlingskrise fair zu verteilen. Als Folge der Osterweiterung wurde Europa zu einem Bündnis, in dem sich einige der neuen Mitglieder nur dem Nehmen verpflichtet fühlen. Die 19 Euro-EU-Staaten verstecken die Glaubwürdigkeitskrise ihrer Währung unter einer dicken Schicht immer neuer Banknoten und bilden sich ein, dass es niemand merkt. Nein, dieses Europa war schon mit Großbritannien keine Zugnummer auf der Weltbühne. Aber ohne die Insel taugt die EU nicht einmal als Rahmenprogramm. Und die Gefahr ist virulent, dass nun auch andere Länder wie Dänemark, Frankreich, die Niederlande vom Virus der Segregation angesteckt werden.

Das Wohlstandsgefälle in Großbritannien ist groß

Was muss also geschehen? Wer aus Erfahrung klüger werden will, muss das britische Wahlergebnis analysieren und überlegen, welche Lehren der Rest Europas daraus ziehen kann. In England konnte man beobachten, wohin die rein innenpolitisch motivierte Lust führt, das eigene Versagen Europa und seinen Institutionen in die Schuhe zu schieben: Es schürt den Europa-Überdruss. England hat nach seinem EU-Beitritt 1973 massiv von Geldern aus den Europäischen Strukturfonds profitiert, die vor allem in die Midlands, die klassische Kohle- und Stahlregion in der Mitte Englands, flossen. Das aber reichte nicht, um die Strukturkrise des Raums zu beseitigen. Viel mehr eigene Anstrengungen wären nötig gewesen. Tatsächlich bereitete das starke Wohlstandsgefälle innerhalb des eigenen Landes der Regierung in London nicht genügend Sorge, denn London boomte. Nach jüngsten Zahlen der OECD beträgt die Spanne des Jahreseinkommens in einem Durchschnittshaushalt zwischen der ärmsten und der reichsten Region eines Landes in Deutschland 28 Prozent. Der Wert für Frankreich liegt bei 36 Prozent, für Großbritannien bei 51 Prozent. Wer wundert sich da noch, dass die sozialen Spannungen zunehmen und Menschen in benachteiligten Regionen, entsprechend politisch indoktriniert, glauben, das müsse, das könne nur an Europa liegen?

Das eigene Versagen wurde Europa in die Schuhe geschoben

Großbritannien im Allgemeinen und England im Besonderen erlebte in den frühen Nullerjahren eine wirtschaftliche Boomphase. Deshalb öffnete die damalige Labourregierung die Grenzen weit für osteuropäische Arbeitsuchende, die nach der Osterweiterung 2004 vor allem aus Polen kamen. Wir erinnern uns: Der zu dieser Zeit in Deutschland regierende Bundeskanzler Gerhard Schröder setzte eine mehrjährige Sperre für die Zuwanderung von Arbeitskräften aus Osteuropa durch, um eine Überforderung des einheimischen Arbeitsmarktes zu verhindern. Dafür wurde er gerade von der Wirtschaft sehr gescholten. Im Blick zurück war es aber eine wohlüberlegte Maßnahme. Nach England kamen 2004 und in den Folgejahren fast eine Million polnischer Zuzügler, 550 000 von ihnen sind bis heute geblieben, vor allem in London und den Midlands. Sie haben eine eigene polnische Infrastruktur aufgebaut, mit Restaurants, Ärzten und Geschäften. Von der älteren eingesessenen Bevölkerung werden sie offenbar als Bedrohung bei der Suche nach Jobs empfunden, während die jüngere Generation keine Probleme sieht. Es sind also ganz ähnliche Verlustängste, wie wir sie auch in Deutschland beobachten. Das Wahlergebnis spricht Bände: 64 Prozent der Briten unter 25 Jahre haben für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt. 49 Prozent der 50- bis 64-Jährigen waren dagegen, sogar 58 Prozent der über 65-Jährigen. Die Alten haben den Jungen die Zukunft zerstört.

Peter Ludlow, einer der kenntnisreichsten Analytiker Europas, hat bei der Auswertung der Zahlen auf ein anderes britisches Problem verwiesen: das der mangelnden weltoffenen Schul- und Universitätsausbildung. Der Europa-Affinität der jungen Generation steht eine Europa-Abstinenz der Bildungsverwaltung im Wege. Ludlow registriert, dass britische Schulabgänger kaum Fremdsprachen sprechen, dass Studenten von der Insel nur selten an den Erasmus-Programmen der EU teilnehmen, und dass sie in 12 bis 13 Schuljahren alles über deutsche Geschichte von 1918 bis 1945 gelernt, aber nie irgendetwas über die EU oder die europäische Zusammenarbeit erfahren haben.

Viele Briten wollen eine Freihandelszone, mehr nicht

Europa war in Großbritannien ein Schnäppchen für die Oberklasse und für den Finanzdistrikt in London. Mit unnachahmlicher, leicht überheblicher Lässigkeit hat dies der frühere Dresdner-Bank-Manager Leonhard Fischer, der von London aus lange für Geldunternehmen das Investmentgeschäft mit besorgte, gegenüber Kevin O’Brien, dem Chefredakteur von Handelsblatt Global Edition, in einem Interview gesagt: England möchte im gemeinsamen Markt bleiben, aber weder den Euro haben noch sich an alle anderen Abreden halten. England will, das ist Fischers eigentliche Aussage, was es immer von Europa wollte: Eine Freihandelszone im Stile der Efta, sonst nichts.

Dass die britischen Sorgen über das Versagen Europas nicht spezifisch sind, sondern ähnlich in fast allen Staaten der Union herrschen, hat eine Acht-Länder-Studie gezeigt, die der in Berlin ansässige Thinktank „Policy Matters“ im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchführte. Befragt wurden repräsentative Bevölkerungsgruppen in vier EU-Gründungsstaaten (Deutschland, Frankreich, Italien, Niederlande), zwei späteren Beitrittsstaaten (Spanien und Schweden) sowie zwei Neumitgliedern aus Osteuropa (Tschechien und Slowakei). Alarmierend ist die Dominanz negativer Einschätzungen, was die Fähigkeit der EU zur Krisenbewältigung betrifft. In sechs von acht Staaten glaubt eine Mehrheit, dass die EU mehr Nach- als Vorteile bringt. Das sehen nicht nur die Menschen in Tschechien und der Slowakei so, sondern auch in Schweden, Italien, Frankreich und den Niederlanden. Vor allem untere soziale Schichten äußern sich besorgt. Die Grundstimmung ist in allen acht Ländern skeptisch: 68 Prozent beunruhigt die Zuwanderung, ebenfalls 68 Prozent sorgen sich um den Arbeitsmarkt, 64 Prozent sehen schlechtere Aussichten für die Wirtschaft, 63 Prozent zweifeln am Zusammenhalt der Gesellschaft. Dass die EU als eine Institution gilt, die für Wohlhabende gut, für untere soziale Schichten hingegen ohne Perspektive sei, belegen hohe Übereinstimmungen in allen Ländern. Sechs von acht Ländern sind für eine Rückführung von Kompetenzen von der europäischen auf die nationale Ebene, das gilt nicht für Spanien und Italien.

Die Diskrepanz zwischen den Wünschen der Eliten und des Volkes ist groß

Die Diskrepanz zwischen dem, was den politischen Eliten nun für Europa nach dem Brexit-Beschluss der Briten vorschwebt, und allem, was die Bürger von der Europäischen Union erwarten, ist bestürzend. Hier liegt vermutlich die eigentliche Gefahr für die EU. Die politischen Meinungsführer stützen sich bei ihrer Zielsetzung auf den Kern des Vertrags von Lissabon, der eine immer engere Zusammenarbeit, eine Finalität des Zusammenschlusses als Krönung des europäischen Projektes beschreibt. Das ist vielen Menschen im Ursprungssinne des Wortes unheimlich, weil in ihrer Empfindung dieser Begriff der Finalität einen drohenden Verlust an Heim, an Heimat beschreibt. Wenn die Eliten als Heilmittel empfehlen, was die einfachen Bürger als Gift ablehnen, und sich die Eliten dennoch durchsetzen, werden die unterhöhlten Fundamente der Union bald keinen Halt mehr finden.

Diese Eliten arbeiten an einer noch engeren Verknüpfung von Wirtschaft und Finanzen, wollen eine gemeinsame, die einzelnen Staaten reglementierende Politik, die neue ökonomische Krisen verhindern soll. Das ist vernünftig. Aber gerade in jenen Nationen, die mit starken autoritären oder fremdenfeindlichen politischen Bewegungen kämpfen, wie Frankreich, die Niederlande und Dänemark, gibt es keine Bereitschaft zu engerer Kooperation, im Gegenteil. Wie auch anders, wenn man die Le Pens, Gaulands und Wilders nicht noch stärken will. Nun rächt sich auch, dass nationale Politiker immer wieder Brüssel die Schandglocke umhängten, wenn daheim etwas schieflief.

Entschieden wird im kleinen Kreis

Europas politische Richtungsfindung wird durch die sogenannte Intergouvernementalität bestimmt. Das ist europäischer Alltag und schmeckt nach Mauschelei: Die 28 Staats- und Regierungschefs bereden die aktuelle EU-Politik, die Präsidenten des Europäischen Parlamentes und der EU-Kommission sind dabei präsent, aber entschieden wird im kleineren Kreis. Meistens ist die Bundeskanzlerin die Wortführerin. Oder es wird eben nicht entschieden, denn wenn Europa permanent scheitert, dann liegt es an diesem Kreis der 28, der sich nicht einigen kann. Die Bremser sitzen weder im Parlament noch in der Kommission, sie sitzen in diesem europäischen Rat der Regierungschefs.

Deutschland und Frankreich sollte sich hüten, jetzt alleine und klandestin miteinander den Kurs Europas abzustecken

Auf Dauer kann man das weder mit dem selbstbewussten Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker noch mit dem nicht weniger von sich überzeugten Parlamentspräsidenten Martin Schulz machen. Keiner von beiden lässt sich am Nasenring durch die Brüsseler Manege ziehen, wie das gerade deutsche und französische Regierungs- und Staatschefs schon getan haben, bevor der Lissabonvertrag die Machtverteilung neu regelte. Es hat seine Gründe, dass Angela Merkel sowohl Juncker als auch Schulz in der jeweiligen Position verhindern wollte. Mehr Offenheit, mehr Transparenz, mehr soziale Kompetenz: Ohne das wird es nicht gehen, und genau das wird nach dem BrexitBeschluss mehr denn je zuvor gefordert werden.

Und noch vor einem muss gewarnt werden: Dass jetzt, nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus dem engeren Kreis, Paris und Berlin meinen, alleine und klandestin miteinander den Kurs Europas abstecken zu können. Wieder einmal die kleineren und mittleren EU-Staaten durch separate Abreden überrollen zu wollen, das käme nun wirklich einem Todeskuss für die EU gleich. Dann wären wir – post mortem.

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