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Auf die Straßen: Zehntausende Türken stellten sich den putschenden Militärs in den Weg, auch Panzer konnten sie nicht abschrecken.

© REUTERS

Nach dem Drama von Istanbul und Ankara: Der Putsch und der Präsident - wohin steuert die Türkei?

Schüsse fallen, Panzer fahren auf, Flugzeuge greifen an. Dann wehren sich die Menschen. Was ist passiert in der Türkei und wie geht es weiter?

Mindestens 265 Tote, 1400 Verletzte und noch mehr Gefangene. Das sind nur einige Folgen des Putschversuchs in der Türkei. Ein Überblick über eine Nacht, die das Land nachhaltig verändern wird.

Was ist passiert?

Die ersten Schüsse fallen Freitagabend kurz nach 21 Uhr Ortszeit. In Ankara attackieren Panzer das Parlamentsgebäude, Militärhubschrauber feuern auf die Zentrale des Geheimdienstes. Beide Bauten werden schwer beschädigt. Auf den Straßen bekämpfen sich Soldaten und Polizisten. Der Putsch ist in vollem Gange. Aus Istanbul heißt es, Soldaten hätten die beiden wichtigen Brücken über den Bosporus gesperrt.

Der Berliner Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, erfährt davon über „Twitter“. Seine Wohnung liegt unweit des belebten Taksim-Platzes, vom Balkon aus sieht er mit dem Fernglas die Absperrung auf einer der Brücken. „Es gab auch das Gerücht einer Terrorwarnung“, sagt er. „Aber spätestens, als ich das Foto eines Kampfpanzers in Ankara sah, deutete vieles auf einen Putsch hin.“ Nach Mitternacht kommt es auch in Istanbul zu heftigen Schießereien, später werden Kampfflugzeuge so tief über Wohngebiete fliegen, dass Fensterscheiben aus Rahmen springen. In Kristian Brakels Wohnung fällt der Stuck von der Decke.

Auch am Atatürk-Flughafen südwestlich der Stadtmitte Istanbuls übernehmen die Putschisten die Macht. Alle Flüge sind gestrichen, vor dem Gebäude werden Panzer in Stellung gebracht. Das türkische Staatsfernsehen TRT verliest die Erklärung: Das Militär habe die Macht übernommen, um die Rechtstaatlichkeit im Land wiederherzustellen. Die Putschisten verhängen eine Ausgangssperre und das Kriegsrecht.

Wie haben die Türken reagiert?

Im Studio des Senders CNN-Türk hält die Moderatorin ihr Smartphone in die Kamera. Auf dem Bildschirm ist Präsident Erdogan zu sehen, der sich über „Facetime“ zu Wort meldet. Für den Putschversuch sei „eine Minderheit in unseren Streitkräften“ verantwortlich, sie werde einen hohen Preis bezahlen. Er ruft die Bevölkerung zu Versammlungen auf Plätzen und am Flughafen auf – als Demonstration für seine Regierung.

Über die Lautsprecher der Minarette wenden sich auch die Prediger der großen Moscheen an die Menschen. Begleitet von „Allahu Akbar“-Rufen fordern sie alle Gläubigen auf, die Ausgangssperre zu missachten. Auf dem Taksim-Platz werden rund 20 Soldaten von einer aufgebrachten Menge umzingelt. In Sprechchören verlangen sie, die Soldaten müssten sich in die Kaserne zurückziehen. Die Panzer am Atatürk-Flughafen werden kampflos von Demonstranten übernommen. Neben Erdogan-Anhängern sind auch viele Oppositionelle auf den Straßen, um den Putschversuch zu vereiteln.

Auf den Bosporus-Brücken ergeben sich die Soldaten am Morgen. Nach ihrer Entwaffnung durch die Polizei werden sie von Zivilisten beschimpft und teilweise geschlagen. Samstagvormittag wird nur noch am Armee-Hauptquartier in Ankara gekämpft, wo sich Aufständische verschanzt haben.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan rief einen TV-Sender an, die Moderation hielt dann ein Smartphone in die Kamera
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan rief einen TV-Sender an, die Moderation hielt dann ein Smartphone in die Kamera

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Deutsche Reiseveranstalter melden, ihre Urlauber hätten in den Touristenhochburgen an der Türkischen Riviera nichts von den Ereignissen mitbekommen. Dagegen berichten Augenzeugen von Panikkäufen der Einheimischen. Tagesspiegel-Autor Moritz Rinke, der sich in Antalya aufhält, sieht lange Schlangen vor Bankautomaten und Tankstellen – es sind vor allem Ältere, die sich noch an den letzten Putsch erinnern.

Die bayerische Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz (Grüne), die in ständigem Kontakt mit Bekannten und Freunden in der Türkei steht, berichtet, dass die Menschen im Krisenmodus seien. „Die Türken sind Ausgangssperren gewohnt.“ Sie würden „mit einem schon erschreckenden Automatismus“ alle Eimer und Krüge mit Wasser füllen, falls das Wasser abgestellt werde, sie holten ihre Kerzen raus, falls der Strom ausfalle, und hätten routinemäßig Vorräte im Haus, um einige Zeit durchzuhalten.

Viele seien auf den Straßen. Die einen, weil sie den bedrängten Präsidenten unterstützen wollen. Die Linken aber auch, weil sie sich noch an die Militärdiktatur der 80er Jahre erinnern könnten. „Die Linken, die Intellektuellen, die Lehrer haben damals am meisten gelitten“, sagt Deligöz. Freunde und Bekannte seien auf den Straßen gegen das Militär, obwohl sie das Gefühl hätten, dass Erdogan sie damit ausnutzt und die „Demokratie“ nur als Begriff vor sich her trage.

Warum gab es den Putschversuch?

Recep Tayyip Erdogan und seine Regierung wurden von dem Umsturzversuch vermutlich überrascht. Der Staatschef weilte im Sommerurlaub an der türkischen Ägäisküste, das politische Ankara war wegen der Sommerpause ebenfalls ruhiger als gewöhnlich. Nichts deutete auf einen bevorstehenden Coup hin.

Beobachter verweisen darauf, dass die Umstürzler vor ihrer Aktion darauf verzichteten, den Staatsstreich durch eine Mobilisierung der Bevölkerung gegen Missstände im Land vorzubereiten; bei Machtübernahmen der Militärs in den vergangenen Jahrzehnten konnten die Generäle stets auf eine Unterstützung großer Bevölkerungsteile zählen. Als einer der wichtigsten Anführer gilt Luftwaffengeneral Akin Öztürk – er habe am Freitagabend den Befehl zum Losschlagen gegeben, heißt es. Öztürk und andere hätten erfahren, dass sie bei bevorstehenden Beförderungsentscheidungen leer ausgehen oder in den Ruhestand geschickt werden sollten.

Wer unterstützte den Umsturzversuch?

Der angesehene Journalist Murat Yetkin schreibt in der „Hürriyet“, die Teilnehmer des Staatsstreiches seien vor allem aus der Luftwaffe, der paramilitärischen Gendarmerie und einigen Panzereinheiten gekommen. Neben Öztürk sollen sich noch mehrere andere Generäle an dem Putschversuch beteiligt haben. Sie ließen Generalstabschef Hulusi Akar und andere Vorgesetzte festsetzen.

Entscheidend für den Ausgang des Aufstandes war jedoch nicht so sehr, wer dabei mitmachte, sondern wer sich heraushielt. So distanzierte sich das Erste Armeekorps, das für die Verteidigung Istanbuls zuständig ist und die prestigeträchtigste Einheit der zweitstärksten Nato-Streitmacht bildet, von dem Umsturz. Auch die Offiziere der türkischen Spezialeinheiten machten nicht mit.

Was droht den Putschisten?

Öztürk und andere Offiziere sollen wegen Landesverrats angeklagt werden; die zuständigen Staatsanwaltschaften haben bereits entsprechende Ermittlungen eingeleitet. In den Stunden nach dem Putsch deutete Ministerpräsident Binali Yildirim eine Wiedereinführung der Todesstrafe für die Umstürzler an; der Strang war im Jahr 2001 im Rahmen der türkischen EU-Bewerbung abgeschafft worden. Auch Erdogan brachte bei einer Rede vor Anhängern am Samstagabend die Todesstrafe ins Spiel. Über das Thema könnte im Parlament gesprochen werden. Eine neuerliche Einführung der Todesstrafe würde vermutlich das Aus der EU-Hoffnungen des Landes bedeuten.

Einige an dem Putschversuch beteiligte Soldaten wurden in den Stunden nach dem Scheitern des Umsturzes Opfer von Lynchjustiz durch Erdogan-Anhänger. Vielerorts wurden die in Istanbul und anderen Städten aufmarschierten Soldaten von Erdogan-treuen Zivilisten und Polizisten verprügelt; Fotos blutender Soldaten wurden in sozialen Netzwerken verbreitet – eine Erniedrigung für die Armee, die bisher als unantastbar galt.

Spielte Erdogans Gegner Fethullah Gülen eine zentrale Rolle?

Erdogan machte die Bewegung des in den USA lebenden islamischen Predigers Gülen für den Umsturzversuch verantwortlich. Gülen gehörte lange zu den wichtigsten Unterstützern Erdogans. Der 75-Jährige steht an der Spitze eines Netzwerkes, zu dem Unternehmer, Medien und Bildungseinrichtungen gehören, und verbreitet seine islamisch-nationalistischen Lehren schon seit Jahrzehnten.

Zum Bruch zwischen Gülen und Erdogan kam es 2013. Erdogan fühlte sich durch Gülens wachsenden Einfluss bedrängt – als Gülen-treue Staatsanwälte die Regierung der Korruption beschuldigten, schlug er zurück. Tausende Richter, Staatsanwälte und Polizisten wurden gefeuert oder strafversetzt, die Korruptionsermittlungen eingestellt. Immer wieder werden Gülen-nahe Unternehmen, Medien und Universitäten seitdem in rechtsstaatlich sehr fragwürdigen Aktionen unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt.

Fethullah Gulen im Jahr 2013 im Exil in Pennsylvania, USA.
Fethullah Gulen im Jahr 2013 im Exil in Pennsylvania, USA.

© dpa

Inzwischen gilt die gesellschaftlich aktive, aber nicht militante Gülen-Bewegung bei Erdogan und dessen Anhängern als radikale Sekte und als Terrororganisation, die den Staat unterwandern will. Nach dem Putschversuch meldeten regierungstreue Medien, die „Fetö“ – die Terrororganisation der Fethullah-Anhänger – stecke hinter dem gescheiterten Staatsstreich. Gülen und Mitglieder seiner Bewegung distanzierten sich allerdings von dem Putschversuch. Gülen sagte, er halte es für möglich, dass der Putschversuch inszeniert war. Er forderte die Bevölkerung der Türkei auf, eine militärische Intervention nicht in einem positiven Licht zu beurteilen. Eine Demokratie könne durch militärisches Vorgehen nicht erreicht werden, sagt er.

Welche Folgen wird der Umsturzversuch für das Land innen- und außenpolitisch haben?

Metin Münir, Autor der Nachrichtenplattform T24, gehört zu jenen Türken, für die der Umsturzversuch aus vielen Gründen eine Katastrophe ist. „Die Soldaten, die Erdogan stürzen wollten, haben ihn am Ende noch stärker gemacht“, schreibt Münir. Nach dem Motto „Was mich nicht umbringt, macht mich härter“ gehe der Präsident als Sieger aus der Putschnacht hervor.

Münir und viele andere erwarten, dass Erdogan die Zügel nun noch mehr anziehen und den Druck auf seine Gegner weiter erhöhen wird. Erdogan werde bei seinem Kurs bleiben und keine Wende hin zu mehr Demokratie und gesellschaftlicher Aussöhnung einleiten, sagte er voraus. „Erdogan ist gerettet, aber die Türkei geht unter.“

Baschar al Assad ist in Syrien noch immer an der Macht.
Baschar al Assad ist in Syrien noch immer an der Macht.

© AFP

Einige Gegner des Staatschefs argwöhnen, dass der Umsturzversuch eine gigantische Inszenierung der Regierung gewesen sein könnte – mit dem Ziel, die Macht des Präsidenten weiter auszubauen. Für sie ist Erdogan ein Diktator. „Das ist wie Hitlers Reichstagsbrand“, schreibt der Journalist Ergun Babahan auf Twitter.

Andere Beobachter würdigten die Tatsache, dass die Türken gegen den Putsch auf die Straße gegangen seien. Auch die drei großen Oppositionsparteien riefen zum Widerstand gegen den Staatsstreich auf. Damit haben die Menschen über Parteigrenzen hinweg demonstriert, dass sie keine neue Militärherrschaft wollen. Sogar ausgewiesene Erdogan-Kritiker wie der „Hürriyet“-Kolumnist Ahmet Hakan wiesen nach der Abwehr der Umstürzler auf diese Leistung hin: „Selbst die schlechteste zivile Regierung ist besser als ein Putsch.“

Ändert sich die türkische Syrien-Politik?

Der Aufstand gegen Baschar al Assad hatte kaum begonnen, da erklärte Erdogan bereits seine Solidarität mit den Syrern – auch aus persönlicher Enttäuschung über die mangelnde Reformbereitschaft des Diktators in Damaskus. Seitdem fordert der türkische Präsident auch immer wieder den Sturz des syrischen Herrschers. Deshalb unterstützte Erdogan von Anfang an die islamistischen Gegner des Regimes in Syrien. Es gibt sogar Berichte darüber, dass IS-Kämpfer über die Grenze hinweg mit Waffen und Medikamenten versorgt wurden.

Spuren der Nacht: Die Putschisten bombardierten sogar das Parlament in Ankara.
Spuren der Nacht: Die Putschisten bombardierten sogar das Parlament in Ankara.

© AFP

Doch Erdogans Ankündigung, Assad werde sehr rasch aus dem Präsidentenamt gejagt, hat sich bis heute nicht bewahrheitet. Stattdessen ist Syrien in Krieg und Elend versunken. Mit den Folgen wird nicht zuletzt die Türkei konfrontiert. Heute leben dort fast drei Millionen Syrer, die vor den Kämpfen in der Heimat geflohen sind. Um den Druck im eigenen Land zu verringern, drängt Erdogan seit Langem darauf, Schutzzonen in Syrien zu errichten. Mit diesem Ansinnen steht er allerdings weitgehend allein. Denn diese Gebiete müssten wohl aus der Luft und am Boden gesichert werden – wovon auch die türkischen Militärs wenig halten. Nach dem Putsch könnte es nun sein, dass der Staatschef versucht, seine harte Linie durchzudrücken.

Es gibt aber auch Anzeichen dafür, dass Erdogan von seinem harten Kurs gegenüber Assad etwas Abstand nimmt. Dafür spricht, dass die Türkei nach einem Zerwürfnis wieder die Nähe zu Russland sucht. Für Moskau als Assads engen Verbündeten steht es fest, dass der syrische Präsident vorerst seine Macht behält. Und Ministerpräsident Binali Yildirim erklärte vor wenigen Tagen, er könne sich vorstellen, dass sich die Beziehungen zu Damaskus wieder verbessern könnten. Die Türkei müsse die Zahl ihrer Freunde erhöhen und die ihrer Feinde verringern.

Wächst jetzt die Gefahr durch den IS?

Eines steht fest: Der „Islamische Staat“ hat es in der Vergangenheit immer wieder verstanden, Chaos und Anarchie für sich zu nutzen. Es gehört auch zu den erklärten Zielen der Dschihadisten, die Türkei zu destabilisieren. Denn seit gut einem Jahr herrscht Krieg zwischen dem IS und der Regierung in Ankara.

Nach einem verheerenden Anschlag in Suruc, einem Ort an der syrischen Grenze, vollzog Erdogan einen Kurswechsel. Lange Zeit hatte er es zugelassen, dass die Extremisten mehr oder weniger unbehelligt in seinem Land agieren konnten. Die nutzen ihre Freiräume geschickt, um Geschäfte zu machen, neue Kämpfer zu rekrutieren und den Nachschub zu sichern. Doch unmittelbar nach dem Attentat von Suruc, für das die Regierung in Ankara sofort den IS verantwortlich machte, bombardierten türkische Kampfjets Stellungen der „Gotteskrieger“. Und die erklärten umgehend, sich dafür blutig zu rächen. In den folgenden Monaten gab es denn auch mehrere verheerende Attentate.

Hat der Putschversuch Auswirkungen auf Deutschland?

Sicherheitskreise befürchten zwei mögliche Folgen. Zum einen sei zu erwarten, dass fanatische Anhänger Erdogans die Einrichtungen der Gülen-Bewegung in Deutschland attackieren. Die Gülen-Bewegung betreibt in Berlin und anderen Städten ungefähr 50 Privatschulen, außerdem Kindertagesstätten sowie etwa 300 „Lichthäuser“, in denen Wohngemeinschaften türkisch-muslimischer Studenten leben.

Eine andere Folge werde mittelfristig eine weitere Verschärfung der heftigen Spannungen zwischen nationalistischen Türken und Kurden in Deutschland sein, sagen Sicherheitsexperten. Da Erdogan durch den misslungenen Putsch gestärkt sei, werde er vermutlich die Repressionen gegen die Kurdenpartei HDP wie auch gegen die Terrororganisation PKK noch verschärfen.

In Deutschland dürften weitere nationalistische Türken zunehmend mit Kurden – vor allem jungen PKK-Sympathisanten – aneinandergeraten. Das Bundesamt für Verfassungssschutz (BfV) prophezeit angesichts der vermutlich noch zunehmenden Auseinandersetzungen in der Türkei zwischen Militär und PKK „deutliche Auswirkungen auch auf die Sicherheitslage in Deutschland“.

Was wird aus dem Flüchtlingsdeal?

Angela Merkel wird im Morgengrauen in Ulan Bator von den Putschmeldungen überrascht – nach dem Attentat von Nizza schon die zweite Katastrophenmeldung während des EU-Asien-Gipfels in der Mongolei. Die Reaktion, auf kurzem Wege abgestimmt mit den EU-Partnern, ist rasch klar. Regierungssprecher Steffen Seibert twittert in der Nacht: „Die demokratische Ordnung in der #Türkei muss respektiert werden“ und wenig später: „Unterstützung für gewählte Regierung“.

Am Samstagnachmittag, gerade nach Berlin zurückgekehrt, verurteilt Merkel vor Kameras und Mikrofonen im Kanzleramt den Putschversuch „auf das Schärfste“. „Es ist und bleibt das Recht des Volkes, in freien Wahlen zu bestimmen, wer es regiert“, betont die Kanzlerin. „Panzer auf den Straßen und Luftangriffe gegen die eigene Bevölkerung sind Unrecht!“ Deutschland lasse sich in diesen schweren Stunden vom Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaat leiten.

Aber Merkel sendet zugleich eine zweite Botschaft nach Ankara: Bitte jetzt keine blinde Generalabrechnung mit allen, die Erdogan für seine Gegner hält, kein Rachefeldzug. „Gerade im Umgang mit den Verantwortlichen (…) kann und sollte sich der Rechtsstaat beweisen“, mahnt die Kanzlerin.

Den Namen des türkischen Präsidenten erwähnt sie in ihrer Erklärung nicht. Erdogan war bisher schon ein schwieriger Partner – jetzt, fürchten viele in Berlin, wird er ein berechenbar Unberechenbarer. Ob – nur ein Beispiel – das Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Türkei hält, ist ungewisser denn je. Der Streit über Visa-Freiheit für türkische Staatsbürger ist ungelöst. Bisher besteht die EU noch auf Änderung der türkischen Anti-Terror-Gesetze. Aber Erdogan dürfte den Putschversuch als Beweis dafür nehmen, dass er nicht unter Verfolgungswahn leidet, sondern real von undemokratischen Kräften bedroht wird – und die Forderungen der Europäer also völlig lebensfremd seien.

Wie reagieren die Nato-Verbündeten?

Die 244 Bundeswehrsoldaten auf der Nato-Basis Incirlik haben von dem Putschversuch nichts mitbekommen. Es habe in der Nacht dort keine Zwischenfälle gegeben, sagte ein Sprecherin des Einsatzführungskommandos in Potsdam. Die Sicherheitsstufe auf der Militärbasis wurde gleichwohl auf die höchste Stufe gesetzt. Die Bundeswehr unterstützt von Incirlik aus mit sechs Tornado-Aufklärern und einem Tankflugzeug die Allianz gegen den IS. Nach der Armenien-Resolution des Bundestages hatte die Türkei deutschen Abgeordneten den Zugang verwehrt. Bald soll der Bundestag entscheiden, ob er zusätzlich den Einsatz von Nato-Awacs-Fernaufklärern von der Basis genehmigt.

Noch gar nicht zu überschauen ist, wie sich der Putsch auf die Nato auswirkt. Nato-Insider rechnen mit einer Phase der Unsicherheit – angefangen bei der praktischen Frage, ob der bisherige Ansprechpartner morgen noch auf seinem Posten ist, bis hin zur Rolle der türkischen Armee im Staatsgefüge und ihrer Verfügbarkeit für Nato-Aufgaben.

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