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Das Europäische Parlament in Straßburg.

© dpa

Nach der Debatte um Ceta: Mehr Macht dem EU-Parlament!

Das Gerangel um Ceta zeigt: In der EU muss die Mehrheit entscheiden. Es kommt nicht darauf an, dass am Ende jeder einverstanden ist. Ein Gastkommentar.

Der derzeitige Zustand der Europäischen Union ist desaströs. Falls es noch irgendeines Beweises bedurft hätte, so lieferte diesen nun der Streit um das Freihandelsabkommen Ceta. Europa ist nicht mehr handlungsfähig. Zwar wurde in letzter Minute eine Einigung erzielt, die Grundprobleme aber bleiben die gleichen. Und dies in einer Zeit, in der große, transnationale Herausforderungen, vom Klimawandel bis zur Digitalisierung, nicht auf uns Europäer warten. Warum musste es so kommen?

Die erste Antwort liegt in einem tiefen Misstrauen der Mitgliedstaaten gegenüber Brüssel. Kurz nach dem Brexit-Votum im Juni sprachen sich die Minister dafür aus, Ceta als gemischtes Abkommen zu deklarieren. Seither war es 38 nationalen und regionalen Parlamenten möglich, einen sieben Jahre anhaltenden Verhandlungsprozess ab absurdum zu führen. Ein donnerhallendes Misstrauensvotum gegen das Europäische Parlament und die europäische Demokratie. Das noch dazu den Kern der Europäischen Union, nämlich ihre exklusive handelspolitische Kompetenz, empfindlich schleift.

Der zweite Grund liegt in einem Missverständnis demokratischer Herrschaft. Eine übergroße Mehrheit der Mitgliedstaaten und ihrer Parlamente hat sich für das Ceta-Abkommen ausgesprochen. Darum geht es in der Demokratie, auch der europäischen: Mehrheiten entscheiden. Es kommt nicht darauf an, dass am Ende jeder einverstanden ist. Stattdessen aber hatte nun jedes Wald- und Wiesenparlament in der EU eine Veto-Macht bei zentralen Entscheidungen. Dieser Zustand führt zu vollkommener Reformunfähigkeit und lähmt das institutionelle Gefüge der EU. Das Motto müsste deshalb lauten: Ja zur Miteinbeziehung nationaler und regionaler Parlamente in Bereichen mitgliedstaatlicher Kompetenzen (die einen verschwindend geringen Teil von Ceta ausmachen), doch ein ebenso klares Nein zu deren Veto-Macht in Bezug auf das gesamte Abkommen.

Das EU-Parlament hat die notwendige Expertise

An diesem Zustand sind die Mitgliedstaaten schuld. Sie vertrauen dem EU-Parlament nicht. Dabei verfügt das EU-Parlament über die notwendige handelspolitische Expertise, war von Anfang an bei Ceta eng involviert und hat zahlreiche seiner, teils von der breiten Protestbewegung übernommenen, Interessen durchsetzen können. Ein gutes Beispiel sind die privaten Schiedsgerichte, die auf Betreiben des Parlaments aus Ceta gestrichen wurden. Auch hat das EU-Parlament zu genüge unter Beweis gestellt, dass es zum eigenständigen Akteur taugt. So lehnte es im Jahr 2012 auch das Acta-Abkommen (Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen) ab. Wieso sollte es bei Ceta anders verfahren, wenn es zu der Ansicht gelangt, dass das Abkommen nachteilig ist für die Europäische Union?

Wenn wir dem EU-Parlament jedoch nicht vertrauen, wofür brauchen wir es dann überhaupt? Alle fünf Jahre wählen 400 Millionen Bürgerinnen und Bürger ein Parlament, dem von Seiten der Mitgliedstaaten die Legitimität abgesprochen wird, für sie zu entscheiden. Die Wähler registrieren das. Ein Indiz ist, dass die Wahlbeteiligung bei Europawahlen seit 1979 konstant gesunken ist. Die Menschen fühlen, dass das EU-Parlament mehr ein Rede- als ein Entscheidungsparlament ist.

Wer jedoch in Europa eine funktionierende Demokratie möchte, der muss dem Europaparlament mehr Macht in jenen Fragen geben, die wirklich ganz Europa betreffen. Der Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt, Handelsabkommen also, zählt in vollem Umfang, und nicht nur zum Teil, dazu. Nur so ebnen wir der europäischen Mehrheitsdemokratie den Weg.

Es braucht das Prinzip „one man, one vote“

Allein, es fehlt dem Parlament an dieser Macht. Das ist die Ursuppe der derzeitigen Malaise. Es fehlt an gesamteuropäischen Listenplätzen, am glaubwürdigen Einfluss auf die Wahl des Kommissionspräsidenten, an einer Möglichkeit des Misstrauensvotums und vor allem an einem echten Budgetrecht. „Representation without taxation“? Wieso sollten wir dafür wählen gehen? Stichwort wählen gehen: Das Prinzip „one man, one vote“ findet bei den Europawahlen keine Anwendung. Stattdessen haben kleine Staaten überproportional viele Sitze im Parlament. Dieser Umstand ist ein weiterer Beleg für die Undurchschaubarkeit gelebter europäischer Demokratie. Das muss dringend geändert werden, damit die Bürger dieses Kontinents wieder an ein demokratisches Europa glauben. 

Seit Jahren wurschteln sich die Mitgliedstaaten der EU beim Thema „Europaparlament” durch. Ein bisschen Einfluss hier, ein paar mehr Kompetenzen dort. Damit beschädigen sie die Legitimität des Parlaments. Wenn die europäischen Abgeordneten die Vertreter der europäischen Bürger sein sollen, müssen sie auch mit den entsprechenden Kompetenzen ausgestattet werden. Angesichts von Ceta muss das Credo deshalb lauten: Mehr Macht dem EU-Parlament!

Christian Freudlsperger ist Co-Präsident des Berliner Grassroots-Thinktanks Polis180. Adrian Sonder ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag, er ist Mitglied von Polis180.

Christian Freudlsperger, Adrian Sonder

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