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Der Pfleger Niels H. verbarg beim Prozess vor zwei Jahren sein Gesicht.

© Reuters

Niels H. soll 90 Patienten getötet haben: Der Totmacher

Der ehemalige Krankenpfleger Niels H. könnte Deutschlands schlimmster Serienmörder sein, das geht aus neuen Erkenntnissen der Ermittler hervor. Was man über seine Taten jetzt weiß.

Der ehemalige Krankenpfleger Niels H. aus Wilhelmshaven sitzt längst im Gefängnis. Am 28. Februar 2015 hatte das Landgericht Oldenburg ihn in einem dritten Prozess wegen zweifachen Mordes, zweifachen Mordversuchs sowie gefährlicher Körperverletzung zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch während dieses Prozesses ist auch deutlich geworden, dass Niels H. in seiner Zeit am Klinikum Oldenburg (1999 bis 2002) und am Klinikum Delmenhorst (2002 bis 2005) für zahlreiche weitere Todesfälle verantwortlich sein könnte. Möglicherweise für mehr als 200. Die Polizei gründete daraufhin die Sonderkommission „Kardio“, die am Montag die Ergebnisse ihrer Ermittlungen präsentierte. Sie sind erschütternd: Niels H. könnte Deutschlands größter Serienmörder sein.

Welche neuen Erkenntnisse gab die Soko „Kardio“ bekannt?

Der Klinikmörder Niels H. soll mindestens 90 Patienten getötet haben. „Die Erkenntnisse, die wir dabei gewinnen konnte, erschrecken noch immer – ja, sie sprengen jegliche Vorstellungskraft“, sagte Polizeichef Johann Kühme am Montag auf einer Pressekonferenz von Polizei und Staatsanwaltschaft in Oldenburg. Die Ermittler gehen davon aus, dass diese 90 Taten nur „die Spitze des Eisberges“ darstellten. Die Soko „Kardio“ geht davon aus, dass H. seinen ersten Patientenmord 2000 im Klinikum Oldenburg begangen hat. Mindestens 35 weitere Morde folgten, bevor H. 2002 ans Klinikum Delmenhorst wechselte. Dort tötete H. bis zu seiner Entdeckung im Sommer 2005 mindestens 54 weitere Patienten. Als Mordwerkzeug nutzte H. fünf verschiedene Medikamente, die er den schwerkranken Patienten spritzte. In ein paar Monaten will die Staatsanwaltschaft erneut Anklage erheben.

Wie konnte die Sonderkommission das jetzt herausfinden?

Insgesamt werteten die bis zu 15 Beamten der Soko „Kardio“ in den vergangenen drei Jahren 500 Patientenakten aus und leiteten 332 Strafverfahren wegen Mordverdachts ein. Allein 10 000 Arbeitsstunden fielen bei den Exhumierungen an: Insgesamt mussten die Ermittler 134 Leichen auf 67 Friedhöfen ausgraben. Überprüft hat die Polizei auch 800 Einsatzprotokolle aus dem Rettungsdienst in Ganderkesee, wo H. zwischen 2002 und 2005 neben seiner Arbeit im Klinikum Delmenhorst arbeitete. Die Ermittler fanden in den Akten elf „konkrete Verdachtsfälle einer Vergiftung“. Da die Patienten die Spritze aber überlebten und es sich damit strafrechtlich um Fälle von Körperverletzung handelte, kann H. wegen dieser Taten nicht mehr belangt werden: Körperverletzung verjährt.

Keine Tatnachweise fand die Soko im St.-Willehad-Hospital Wilhelmshaven, wo H. von 1994 bis 1999 angestellt war, und im Rettungsdienst der Stadt Wilhelmshaven, wo er von 1998 bis 2000 und später noch einmal im Jahr 2008 arbeitete. 2007/08 war H. zudem in Altenheimen in Wilhelmshaven und Friedeburg beschäftigt; auch dort fanden die Ermittler keine Hinweise auf Verbrechen.

Wieviele Menschen hat Niels H. tatsächlich auf dem Gewissen?

Es dürfte viele weitere Fälle geben, die nicht mehr nachgewiesen werden können: Mehr als 130 Patienten, die während der Dienstzeiten H. als Krankenpfleger starben, wurden im Anschluss feuerbestattet und konnten daher nicht rechtsmedizinisch untersucht werden. „Wir werden niemals alles wissen“, betonte Polizeichef Kühme.

Wer ist Niels H.?

Niels H. wurde am 30. Dezember 1976 in Wilhelmshaven geboren, er ist auf einem Ohr taub. Er wächst in einem katholischen Elternhaus auf; „warmherzig und tragfähig“ nennt er es später im Gespräch mit seinem psychiatrischen Gutachter, Konstantin Karyofilis. H.s Vater ist Krankenpfleger aus Überzeugung, die Mutter kommt aus eher schwierigen Verhältnissen, gelernte Anwaltsgehilfin, sie muss putzen gehen. H. hat eine ältere Schwester, die später Zahnarzthelferin wird. „Eine durch und durch helfende Familie“, sagen Bekannte. Als Niels elf Jahre alt ist, trennen sich die Eltern für einige Zeit, er entwickelt Ängste. Mit 17 beginnt er die Pflegerausbildung im St.-Willehad-Hospital. Mädchen, Alkohol und Drogen nehmen jetzt einen größeren Platz in seinem Leben ein. Das Examen ist mittelmäßig, aber H. wird übernommen, er erlebt die „beste Phase seines Lebens“. Trotzdem verlässt er 1999 Wilhelmshaven und fängt auf der herzchirurgischen Intensivstation des Klinikums Oldenburg an. H. ist der belastenden Arbeit offenbar nicht gewachsen. Schon die erste Herzoperation beschreibt er als „traumatisierendes Erlebnis“. Er wird immer müder, vereinsamt innerlich. Er beginnt zu trinken, entwickelt Depressionen und Angstzustände, die bis heute behandelt werden müssen.

Anfang 2002 wechselt er nach Delmenhorst, Nach einem Autounfall entwickelt er Panikattacken, nimmt Medikamente. Ein Jahr später heiratet H., seine Tochter kommt zur Welt. Die Geburt ist lebensbedrohlich für das Kind. Er steht daneben, kann nichts machen. Das sei furchtbar gewesen, sagt er dem Gutachter. H. ist vom Familienleben überfordert, lässt seine Frau allein zu Hause, stürzt sich in die Arbeit. Wenn er frei hat, fährt er im Rettungswagen mit, DRK-Wache Ganderkesee-Bookhorn. Für Niels H. gibt es nur noch Arbeit, Alkohol, Tabletten – und Morde.

Warum hat er gemordet?

Gutachter Karyofilis war sich im Prozess 2015 sicher: H. ist voll schuldfähig, er wusste, was er tut. Er habe die Patienten aber nicht vorsätzlich töten wollen, sondern beweisen, wie gut er sie wiederbeleben könne. Aber nicht allein der Retterwahn sei die Ursache. „Eigentlich ist H. ein Angsthase, ein unsicherer Mensch“, sagt der Gutachter. Er habe große Angst vor dem Tod. Karyofilis sagte: „Er hat immer wieder versucht, den Tod zu besiegen.“ Und dabei selber immer wieder getötet.

Wie vollzog Niels H. seine Morde?  

Klinikum Delmenhorst, 22. Juni 2005, auf der Intensivstation hat die Spätschicht begonnen. In Zimmer 6 liegt der ehemalige Justizvollzugsbeamte Dieter M. aus Bremen im künstlichen Koma. M., 63 Jahre alt, leidet an Lungenkrebs; er hat gerade zwei Operationen überstanden. Die Ärzte haben einen Luftröhrenschnitt vorgenommen, sein Zustand ist stabil. Bis der Krankenpfleger Niels H. in sein Zimmer tritt.

H. spritzt ihm 40 Milliliter des Medikaments Gilurytmal in die Vene. Gilurytmal (Wirkstoff Ajmalin) ist ein Herzmittel, eine Überdosis kann lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen und einen Blutdruckabfall verursachen. Neben dem Krankenbett steht eine Infusionspumpe, Dieter M. erhält darüber pro Stunde sieben Milliliter des Blutdruckmedikaments Arterenol.

H. dreht die Pumpe auf null. Als der Überwachungsmonitor einen Alarm auslöst, schaltet H. den Ton ab. Bei Dieter M. setzt ein lebensbedrohliches Herzkammerflattern ein, sein Blutdruck sackt ab. Eine Krankenschwester kommt zufällig ins Zimmer. H. sagt zu ihr: „Dein Patient hat keinen Druck mehr.“ Die Schwester ruft einen Kollegen zur Hilfe, gemeinsam leiten die beiden Wiederbelebungsmaßnahmen ein. Sie können Kreislauf und Blutdruck von Dieter M. wieder stabilisieren. Vorerst. Nur 29 Stunden später ist Dieter M. tot.

Die Krankenschwester ist misstrauisch geworden, sie nimmt Dieter M. nach der Reanimation eine Blutprobe ab. In der Klinikapotheke stellt sie fest, dass fünf Ampullen Gilurytmal zu je zehn Milliliter fehlen. Die Schwester weiht den Kollegen ein, der bei der Reanimation von Dieter M. dabei war. Der Kollege findet vier leere Ampullen des Medikaments im Mülleimer der Intensivstation. Die Klinik schaltet die Polizei ein. Es wird H.s letzter Mord werden.

Inzwischen weiß man, dass H. auf diese Weise immer wieder getötet hat. Seine Morde werden immer dreister. Sogar während der Arztvisite spritzt er Gilurytmal. An seine Opfer kann er sich kaum erinnern.

Hätte man die Mordserie verhindern können?

Der Fall H. ist aber nicht nur ein Mordfall – er ist auch ein Fall von menschlichem Versagen in Behörden und Klinikleitungen. Polizeichef Kühme betonte: „Die Morde hätten verhindert werden können, wenn in den Kliniken in Oldenburg und Delmenhorst den früh aufgetauchten Verdachtsmomenten nachgegangen worden wäre." In beiden Häusern habe es frühzeitig deutliche Warnsignale gegeben.

So gab es im Klinikum Oldenburg Ärger. Die Ex-Kollegen berichteten, „dass im Arbeitsbereich des Angeklagten des Öfteren Reanimationen erforderlich waren“. Dass sie Niels H. „Unglücksrabe“ und „Pechbringer“ nannten. Dass er in mindestens einem Reanimationsfall zwei Lernschwestern hinzugeholt hatte, um sie „mit seinen medizinischen Fähigkeiten zu beeindrucken“. Der Chefarzt der herzchirurgischen Abteilung wertete das Verhalten zunehmend als „unangebrachten Aktionismus“ und bemühte sich um eine Versetzung von Niels H. auf eine andere Station. H. wird 2001 versetzt, ein Jahr später muss er das Klinikum ganz verlassen. Man hatte kein Vertrauen mehr in ihn, sagt ein Chefarzt. Trotzdem stattete ihn die Klinik auch noch mit einem guten Zeugnis aus.

Versäumnisse hat es zudem bei der Staatsanwaltschaft Oldenburg gegeben, die die Ermittlungen trotz Drängen der Polizei jahrelang nicht vorangetrieben hatte. Das hat Folgen: Hätten die Rettungsdienstprotokolle früher überprüft werden können, wären die Körperverletzungen jetzt nicht verjährt.

Welche Folgen hat die Mordserie für deutsche Krankenhäuser?

Die Taten des nun erneut beschuldigten H. liegen zum Teil lange zurück. Tatsächlich hat sich für die Kliniken seitdem schon einiges geändert. Inzwischen gibt es „nahezu flächendecke Todesfallbesprechungen“, wie es die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) ausdrückt, womit das „Mehraugenprinzip institutionalisiert und nicht erklärbare Fälle überprüft“ würden. „Darüber hinaus treffen die Kliniken mit der Überwachung und Kontrolle der Arzneimittelabgaben Vorkehrungen, um Unregelmäßigkeiten rechtzeitig zu erkennen“, sagte DKG-Hauptgeschäftsführer Georg Baum am Montag. Auch in Berlin hatte es einst eine Serie von Tötungsfällen gegeben. Zwischen Sommer 2005 und Herbst 2006 hatte eine Krankenschwester an der Charité fünf Patienten getötet. Seitdem wurde viel getan. Die Charité-Spitze sensibilisierte Schwestern, Pfleger und Ärzte. Außerdem wurde eine Meldesystem eingeführt: Bemerkt ein Mitarbeiter Seltsames oder macht selbst Fehler, kann er dies anonym in ein Intranet eingeben.

Wie ist die Situation der Pfleger?

Grundsätzlich, dies bestreiten weder Arbeitgeber noch Politiker, wird in Kliniken oft an der Belastungsgrenze gearbeitet. Das kann zu stressbedingten Behandlungsfehlern führen. Niemand erklärt damit aber Taten wie die Delmenhorst und Oldenburg. Pfleger wie Niels H. sind krasse Ausnahmen. Allein in den bundesweit 2000 Kliniken sind 315 000 Schwestern und Pfleger beschäftigt. In den bundesweit 13 000 Heimen kommen noch mal 700 000 Pflegende dazu, darüber hinaus sind 320 000 Mitarbeiter für die 13 000 ambulanten Pflegedienste tätig. Dazu müsste man noch die in den Kliniken tätigen Ärzte rechnen. Insgesamt betreuen also fast zwei Millionen Beschäftigte Alte und Kranke.

Karsten Krogmann und Marco Seng sind Reporter der Oldenburger „Nordwest-Zeitung“. Sie haben den Fall Niels H. von Beginn an begleitet und ihre Erkenntnisse in einem Dossier bei „nwzonline.de“ veröffentlicht.

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