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Semiya Simsek, die Tochter des ersten Mordopfers Enver Simsek.

© dpa

NSU-Opfer stellt Buch vor: „Ich möchte mit Stolz sagen, ich bin Deutsche“

"Der Staat hat versagt" - in ihrem Buch "Schmerzliche Heimat" wirft Semiya Simsek, Tochter des ersten NSU-Mordopfers, dem Staat vor, auf dem rechten Auge blind zu sein. In wenigen Wochen beginnt in München der Prozess gegen Beate Zschärpe und die anderen Beschuldigten.

Wenige Wochen vor dem Prozessauftakt gegen Beate Zschäpe und andere Beschuldigte der Neonazi-Mordserie wird immer deutlicher, dass das Verfahren eine erhebliche politische Dimension bekommen wird. Bei der offiziellen Vorstellung ihres Buches „Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater“ in Berlin warf Semiya Simsek, die Tochter des ersten Mordopfers Enver Simsek, dem Staat vor, „versagt“ zu haben. Gleichzeitig wurde bekannt, dass der türkische Botschafter und der Menschenrechtsbeauftragte des türkischen Parlaments keinen festen Platz im Münchner Gerichtssaal bekommen sollen.

Für die Anwälte der Familie Simsek, Jens Rabe und Stephan Lucas, stellen die Taten des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), der mutmaßlich von 2000 bis 2007 insgesamt zehn Menschen getötet hat, einen ebenso massiven Angriff auf die bundesrepublikanische Ordnung dar wie die der Roten Armee Fraktion (RAF): „Die Verbrechen beider sind politisch motiviert und sollten die bestehende staatliche Ordnung stürzen.“ Staatsführung und Politik haben die Dimension des Geschehens nicht begriffen, auch weil sie „auf dem rechten Auge blind“ seien.

Rabe und Lucas stellten die Vermutung auf, dass sich die Politik mit ihren Äußerungen im Vergleich zu den RAF-Taten beim rechten Terror nur deshalb zurückhalte, „weil es sich bei den Opfern um Migranten handelt“. Rabe kritisierte zudem, dass sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) seit ihrer Konzerthausrede im Februar 2012 zum Gedenken der Opfer „öffentlich vollständig enthält“.

In dem Buch, das der Tagesspiegel in dieser Woche bereits exklusiv besprochen hat, werfen Rabe und Lucas auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) vor, „das Behördenversagen mit jedem Interview kleiner und kleiner“ zu reden. Die Politik nutze das Verfahren, um sich ihrer Verantwortung zu entledigen, indem sie alle Verantwortung an den Ermittlungsausschuss, die Bundesanwaltschaft und den Strafprozess delegiere. Die Strafjustiz sei aber nicht zur Korrektur gesellschaftlicher Fehlentwicklungen wie dem Rechtsextremismus in der Lage.

In München lehnte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl eine Bitte um eine Platzreservierung für den türkischen Botschafter und den Menschenrechtsbeauftragten ab, obwohl acht der zehn Opfer des NSU Türken waren oder aus der Türkei stammten. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags hatte nach einem Besuch in der Türkei beim Gericht um eine Sitzplatzreservierung gebeten. Eine Gerichtssprecherin sagte, Hintergrund dieser Entscheidung seien prozessuale Gründe. Platzreservierungen würden dem Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens widersprechen. Mit „höchster Wahrscheinlichkeit“ habe der Richter das Risiko vermeiden wollen, einen Revisionsgrund zu bieten.

Götzl begründete im Wortlaut des Schreibens an den Bundestagsausschuss die Ablehnung allerdings mit Platzgründen. Dem Botschafter und dem Parlamentsvertreter stehe es frei, sich als Teil der allgemeinen Öffentlichkeit zum Gericht zu begeben und einen der freien Plätze einzunehmen, schrieb Götzl.

Der Mammutprozess wird bis zum nächsten Jahr dauern. Allein die Ermittlungsakten umfassen 130 000 Seiten, die Anklageschrift beinahe 500 Seiten, mehr als 150 Personen sind daran beteiligt, 600 Zeugen und 22 Gutachter sollen gehört werden. Schon seit Längerem gibt es Kritik an der Justiz in München, weil trotz des weltweiten Interesses aus Sicherheitsgründen ein Saal gewählt wurde, in den nur etwa 50 Journalisten und 50 Zuhörer passen.

Am Freitag äußerte Semiya Simsek einen Wunsch: „Ich möchte am Ende des Prozesses mit Stolz sagen können: Ich bin Deutsche.“ (mit AFP)

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