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Spuren der Verwüstung nach dem Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße.

© dpa

NSU-Prozess - der 178. Tag: Opfer gingen aus Angst nicht zum Arzt

Zwei Zeugen haben am Dienstag ausgesagt, sie seien trotz Schmerzen nach dem Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße nicht zum Arzt gegangen, weil sie fürchteten, dann als Tatverdächtige ins Visier der Polizei zu geraten.

Von Frank Jansen

Angst kann Menschen dazu treiben, gegen sich selbst zu handeln – sogar wenn es körperlich weh tut. Das ist eine der bedrückenden Erkenntnisse aus dem aktuellen Kapitel im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München. Zwei Zeugen haben am Dienstag ausgesagt, sie seien trotz Schmerzen nach dem Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße nicht zum Arzt gegangen, weil sie fürchteten, dann als Tatverdächtige ins Visier der Polizei zu geraten. Das klingt absurd, doch einige Opfer empfanden die Ermittlungen als derart drückend, dass sie es vorzogen, still zu leiden. „Ich hatte Angst, aufgrund des Verhaltens des Polizeibeamten, der mich so streng behandelt hat, der mich als Beschuldigter behandelt hat“, erklärte Arif S. den Verzicht auf einen Arztbesuch trotz Ohrenschmerzen und psychischer Probleme nach der Explosion der Nagelbombe am 9. Juni 2004.

Paranoid anmutende Ängste

Die Polizei war lange davon ausgegangen, der Anschlag sei auf Schutzgelderpressung oder andere dunkle Machenschaften in der türkisch dominierten Keupstraße zurückzuführen. Die Theorie erscheint verständlich, da sich die Terrorzelle NSU zu der Tat nicht bekannte und somit in alle Richtungen zu ermitteln war. Für die Opfer des Verbrechens, 22 Menschen wurden verletzt, war jedoch der Verdacht unerträglich, sie könnten mitschuldig sein. So bekamen einige paranoid anmutende Ängste.

Er habe sich gedacht, wenn er zum Arzt gehe, würde dieser der Polizei „Informationen erteilen, so ein Mensch aus der Keupstraße ist zu uns gekommen“, sagte Mohammed A. Er hatte bei dem Anschlag im linken Ohr einen Riss des Trommelfells erlitten. Erst als der NSU im November 2011 aufflog und damit klar war, wer in Köln gebombt hatte, traute sich Mohammed A. zum Arzt. Der das frühere Verhalten des Patienten nicht verstand. „Er sagte mir, ich hätte schon damals zu einem Arzt gehen sollen“, erinnerte sich Mohammed A.

Nicht alle Opfer fühlten sich so stark verunsichert. Mehrere begaben sich wegen ihrer fortdauernden körperlichen und psychischen Beschwerden in ärztliche Behandlung, ohne Sorge vor einer Konfrontation mit der Polizei. Dennoch zeigt der Fall Keupstraße geradezu exemplarisch, dass Opfer derselben Tat unterschiedlich reagieren, auch unabhängig von der Schwere der körperlichen Verletzung. Einige kämpfen sich durch, andere verlieren den Mut.

Der Kaufmann Tamer S. hatte Schnittverletzungen an der Brust, am rechten Arm und an der linken Schulter, eine Zeitlang plagten ihn Schlafstörungen. Er ging zum Psychiater, brach die Behandlung aber ab, „das hat nichts gebracht. Ich hab’ mir gesagt, muss ich selber mit klar kommen“, sagte Tamer S. vergangenen Mittwoch im Prozess. Der Mann führt jetzt offenbar ein Leben, das der Anschlag nicht mehr fühlbar beeinträchtigt. Emine K. hingegen findet wegen ihrer psychischen Probleme auch heute noch keine Arbeit. Die gelernte Bürokauffrau, die bei der Explosion „nur“ eine Hörminderung am rechten Ohr erlitt, kann sich kaum konzentrieren, sie schläft schlecht und wird gequält von Alpträumen. Und sie bekommt das Bild nicht aus dem Kopf von dem Mann mit den brennenden Beinen, die sie löschte. Emine K. hat nicht genug Kraft, sich in ihrem Kopf gegen den Anschlag zu wehren. „Das reicht aus, mein Leben schwer zu machen“, sagte sie, auch am vergangenen Mittwoch, den Richtern.

Schwer oder gar nicht zu bewältigenden Folgen

Der Anschlag in der Keupstraße ist nur eines der Verbrechen des NSU mit schwer oder gar nicht zu bewältigenden Folgen. Das gilt für die meisten Opfer, die die drei Sprengstoffanschläge und die 15 Raubüberfälle der Terrorzelle überlebt haben, wie für die Hinterbliebenen der zehn Menschen, die von den Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erschossen wurden. Außerdem haben die Ermittlungen der Polizei, stark fixiert auf einen nicht-rassistischen Hintergrund der Taten, weitere Traumata verursacht. Und es leiden auch Menschen, die weder verletzt noch von der Polizei drangsaliert wurden.

Der Handwerker in Zwickau, der mit ansehen musste, wie am 4. November 2011 die mutmaßlich von Beate Zschäpe angezündete Wohnung in Flammen aufging, machte im Prozess einen gebrochenen Eindruck. Der Mann hatte im Dachgeschoss gearbeitet und war während des Feuers gerade in der Mittagspause, beim Bäcker gegenüber. Die Ausrüstung des Handwerkers verbrannte. Danach sei er, sagte Heiko P. im Juni 2013 im Prozess, „wieder dem Alkohol verfallen“. Das erste Mal nach 13 Jahren, in denen er von der Flasche weg war.

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