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Am 29. August 2001 erschossen mutmaßlich NSU-Terroristen Habil Kilic, Inhaber eines Obst- und Gemüsehandels in München-Ramersdorf.

© picture alliance / dpa

NSU-Terror: Wusste der Verfassungsschutz von den Mordplänen?

Die NSU-Terroristen sollen in der Firma eines V-Manns gearbeitet haben – als die Polizei nach ihnen fahndete. Was wusste der Verfassungsschutz? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

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Was beinhalten die Vorwürfe?

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ist durch den „Welt“-Bericht in den Verdacht geraten, es könnte in den Jahren 2000 bis 2001 oder 2002 den Aufenthaltsort der untergetauchten Rechtsextremisten Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und damit auch ihrer Kumpanin Beate Zschäpe erfahren haben. Der ehemalige V-Mann Ralf Marschner, vom BfV als Quelle „Primus“ geführt, soll damals in seiner Zwickauer Baufirma Mundlos und womöglich auch Böhnhardt beschäftigt haben. Die Nachrichtenagentur dpa berichtet außerdem, Zschäpe habe in einem „Laden“ Marschners gearbeitet. Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe waren 2000 von Chemnitz, wo sie sich nach ihrer Flucht aus Jena im Januar 1998 versteckt gehalten hatten, nach Zwickau „umgezogen“.

Sollte das BfV über den V-Mann „Primus“ gewusst haben, wo Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe von 2000 bis 2002 waren, wäre die Frage zwingend, warum die Behörde nicht die Polizei informierte und damit die Festnahme der drei Untergetauchten ermöglichte. Dass der Verfassungsschutz den Aufenthaltsort kannte, ist allerdings nicht belegt. Auch nicht, dass Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe für Marschner gearbeitet haben. Und ebenso wenig, dass Marscher, falls er die drei bei sich beschäftigt haben sollte, das seinen V-Mann-Führern berichtet hat.

Was ist neu an den Vorwürfen?

Bisher war nicht bekannt, dass Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe überhaupt in ihrer Zeit im Untergrund gearbeitet haben. Er wisse davon nichts, sagte Zschäpes Verteidiger Mathias Grasel am Donnerstag. Neu ist auch, dass das BfV einen V-Mann führte, der in direktem Kontakt zu den Untergetauchten gestanden haben soll.

Was weiß man über V-Mann Marschner?

Er war eine bekannte Figur im rechtsextremen Skinheadmilieu in Sachsen. Marschner spielte in der Band „Westsachsengesocks“. Marschner betrieb in Zwickau erst den Szeneladen „The Last Resort Shop“ und dann einen namens „Heaven & Hell“, laut dpa von 2008 bis 2011. Dort soll Zschäpe gearbeitet haben. Das wäre allerdings erstaunlich. Szeneläden sind bevorzugte Beobachtungsobjekte von Nachrichtendiensten und Polizei. Sollte es stimmen, dass Zschäpe dort beschäftigt war, hätte sie entweder leichtsinnig ihre Enttarnung riskiert oder sich sehr sicher gefühlt. 2008 soll Marschner allerdings schon lange kein V-Mann mehr gewesen sein. Und: Ein Jahr zuvor hatte er offenbar Zwickau in Richtung Ausland verlassen. Nach Informationen des Tagesspiegels betrieb Marschner den Laden „Heaven & Hell“ nur von 2005 bis 2007. Wie das alles zusammenpassen könnte, bleibt unklar.

Marschner – Szenespitzname „Manole“– soll zudem ein Gartenlokal geführt haben, in dem Konzerte mit rechten Bands stattfanden. Jedenfalls war der Skinhead für den Verfassungsschutz als potenzielle Informationsquelle hochinteressant. Anfang der 90er Jahre wurde er angeworben, von 1992 bis 2002 soll er dann die Szene bespitzelt haben. Das BfV habe ihn abgeschaltet, weil er als unzuverlässig gegolten habe, heißt es in Sicherheitskreisen.

Mit diesem Argument wird auch die Stellungnahme von BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen gegenüber der „Welt“ untermauert. Maaßen betonte, es gebe nach der Erkenntnislage seiner Behörde und nach den Auskünften der damals zuständigen Mitarbeiter, also der ehemaligen V-Mann-Führer von „Primus“, keine Anhaltspunkte dafür, „dass es so war“ – also dass das BfV jemals davon erfuhr, Mundlos könnte bei Marschner in dessen V-Mann-Zeit gearbeitet haben. Die Baufirma sei Marschners „unpolitisches Standbein gewesen“, heißt es in Sicherheitskreisen. Marschner sei allerdings mit dem Unternehmen auch in „rechtliche Probleme“ gekommen.

Warum sind die aktuellen Erkenntnisse so bedeutsam?

Im Jahr 2000, in dem Mundlos angeblich in Marschners Firma eingestellt wurde, begann der NSU seine Mordserie. Am 9. September erschossen Mundlos und Böhnhardt in Nürnberg den türkischen Blumenhändler Enver Simsek. Neun Monate später, am 13. Juni 2001, töteten die beiden Neonazis ebenfalls in Nürnberg den türkischen Schneider Abdurrahim Özüdogru. Es folgte der Mord an den Türken Süleyman Tasköprü in Hamburg (27. Juni 2001) und Habil Kilic in München (29. August 2001). Das sind die Tötungsverbrechen der Terrorzelle in der Zeit, in der Mundlos und vielleicht auch Böhnhardt bei Marschner beschäftigt gewesen sein sollen. Außerdem deponierte die Terrorzelle Ende 2000 in einem iranischen Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse einen Sprengsatz, der im Januar 2001 explodierte und die Tochter des Einzelhändlers schwer verletzte. Und von November 2000 bis September 2002 überfielen Mundlos und Böhnhardt drei Bankinstitute in Chemnitz und Zwickau.

Von allen aufgezählten Taten hätte der Verfassungsschutz theoretisch etwas mitbekommen können, sollte V-Mann Marschner für die Behörde auch Mundlos bespitzelt und darüber berichtet haben. Wenn es so gewesen sei sollte, hätte der Verfassungsschutz sofort alles unternehmen müssen, um die Verbrechen zu stoppen. Zumal nach 2002 weitere sechs Morde, noch ein Sprengstoffanschlag in Köln sowie neun Raubüberfälle folgten.

Andererseits wäre selbst dann, wenn das Bundesamt für Verfassungsschutz von Mundlos’ Tätigkeit in Marschners Firma erfahren haben sollte, noch nicht sicher, dass der V-Mann Kenntnis von den Verbrechen bekam. Warum hätte Mundlos Marschner einweihen sollen? Um Fahrten mit Fahrzeugen zu rechtfertigen, die Marschner für seine Firma gemietet hatte?

Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe (hier ein Foto aus dem Jahr 2004) könnten in der Firma eines V-Mannes gearbeitet haben.
Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe (hier ein Foto aus dem Jahr 2004) könnten in der Firma eines V-Mannes gearbeitet haben.

© dpa

Wie tief ist der Verfassungsschutz in den NSU-Skandal verwickelt – generell und in den einzelnen Bundesländern?

Das Bundesamt geriet 2012 in die Kritik, als die Schredderaktion bekannt wurde. Im November 2011, nur kurz nach dem Ende der Terrorzelle, hatte ein Referatsleiter Akten zu rechtsextremen V-Leuten aus Thüringen vernichten lassen. Außerdem hat ein früherer Spitzel mit dem Decknamen „Tarif“ behauptet, er habe seinem V-Mann-Führer eine brisante Geschichte berichtet. Der Spitzel will 1998 einen Anruf eines mutmaßlichen Komplizen der gerade untergetauchten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe bekommen haben. Der Neonazi aus Thüringen habe ihn gefragt, ob er einen Platz wüsste, wo die drei hinkönnten. Der ehemalige V-Mann sagt heute, der Beamte des BfV habe ihm aufgetragen, nein zu sagen. Und der V-Mann-Führer soll auch geäußert haben, es würden sich „andere“ um den Fall kümmern.

Eine besonders dubiose Rolle spielt allerdings der Thüringer Rechtsextremist Tino Brandt. Er war von 1994 bis 2001 V-Mann des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz. In dieser Zeit baute Brandt die Neonazi-Truppe „Thüringer Heimatschutz“ auf. Zu ihr zählte auch die „Kameradschaft Jena“, bei der Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe mitmachten. Nachdem die drei 1998 abgetaucht waren, hatte Brandt telefonisch Kontakt zu Mundlos oder Böhnhardt oder auch beiden. Jedenfalls bleibt offen, was Brandt seinen V-Mann-Führern berichtet hat – und was nicht. Brandt soll zudem, das hat ein Mitangeklagter im NSU-Prozess in einer Vernehmung der Polizei berichtet, zum bewaffneten Kampf animiert haben. Möglicherweise hat der V-Mann dazu beigetragen, Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe weiter zu radikalisieren. Als hochproblematisch gilt allerdings schon, dass Brandt von dem Honorar für seine Spitzeltätigkeit, ungefähr 200000 D-Mark, sehr viel in den Aufbau von rechtsextremen Strukturen in Thüringen steckte.

Dann ist da auch noch der Fall des früheren Verfassungsschützers Andreas T. Er saß am 6. April 2006 in einem Internetcafé in Kassel, als Mundlos und Böhnhardt hereinstürmten und den Betreiber, den türkischstämmigen Halit Yozgat, erschossen. Andreas T., damals Beamter des hessischen Verfassungsschutzes, behauptet bis heute, er habe von dem Mord nichts mitbekommen. Das ist angesichts der zeitlichen Rekonstruktion der Polizei zum Aufenthalt von Andreas T. im Internetcafé und zu der Bluttat nahezu unmöglich. Opferanwälte im NSU-Prozess vermuten zudem, Andreas T. könnte schon vor dem Tattag etwas über den Mordplan gewusst haben. Der Verfassungsschützer galt auch nach der Tat als Beschuldigter und wurde festgenommen, doch das Verfahren gegen ihn stellte die Staatsanwaltschaft Kassel ein. Es war Andreas T. keine Mittäterschaft nachzuweisen. Der hessische Verfassungsschutz trennte sich dennoch von ihm. Andreas T. blieb jedoch im Staatsdienst.

Wie reagiert die Politik?

„Ich traue solchen Typen wie Marschner nicht einen Millimeter“, sagte der CDU-Abgeordnete Armin Schuster, Obmann der Unionsfraktion im Innenausschuss und im NSU-Untersuchungsausschuss sowie Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums. Sollte die Geschichte jedoch stimmen, dass Mundlos bei Marschner beschäftigt war, „kommt das Thema V-Mann-Führung wieder hoch“. Dann müsste das Bundesamt für Verfassungsschutz gefragt werden, „wurde der V-Mann-Führer getäuscht? War er blind? Oder hat er den Schutz seiner Quelle übertrieben?“ Um solche Fragen zu klären, sei er froh, dass der Bundestag einen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss eingerichtet hat. Es bleibe allerdings offen, ob Marschner als Zeuge geladen werde. „Bisher haben wir die Tendenz, eher nicht V-Leute zu laden“, sagte der Abgeordnete Armin Schuster. Auch ein Spitzel bleibe ein Rechtsextremist, „und solchen Leuten sollte der Untersuchungsausschuss kein Forum bieten“.

Ist die Geschichte relevant für das NSU-Verfahren?

Es ist zu vermuten, dass Marschner und sein ehemaliger V-Mann-Führer nun doch vom Oberlandesgericht München als Zeuge geladen werden. Bislang fiel der Name Marschner einige Male in der Hauptverhandlung, aber nur Anwälte der Nebenkläger hielten den Mann für eine wichtige Figur. Der 6.Strafsenat unter Vorsitz von Richter Manfred Götzl dürfte sich nun stärker dafür interessieren, ob Marschner mit Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe zu tun hatte und womöglich von den Taten des NSU erfuhr.

Nebenkläger und ihre Anwälte werden sich nun in ihrer Kritik an der Bundesanwaltschaft bestätigt sehen. Marschner hatte im Februar 2013, also noch vor Beginn des Prozesses in München, beim BKA ausgesagt, er habe einen Max Burkhardt und dessen Bruder beschäftigt. Als „Max-Florian Burkhardt“ trat Mundlos in der Illegalität auf. Der echte Burkhardt - er war Ende der 1990er Jahre ein Neonazi in Chemnitz - hatte es Mundlos ermöglicht, sich mit einem manipulierten Personalausweis als „Max-Florian Burkhardt“ auszugeben. Marschner sprach beim Bundeskriminalamt (BKA) zudem von einem Bruder (des falschen) Burkhard. Der echte hatte aber keinen. Der vermeintliche Bruder könnte also der zweite NSU-Mörder Uwe Böhnhardt gewesen sein. Und all das war bislang im NSU-Prozess kein Thema. Für die betont kritischen Nebenklage-Anwälte dürfte diese Geschichte ein willkommener Anlass sein, der Bundesanwaltschaft erneut vorzuwerfen, sie halte Erkenntnisse zurück.

Haben die neuen Erkenntnisse Folgen für das NPD-Verbotsverfahren?

Das ist nicht zu erkennen. Schon kurz nach dem dramatischen Ende des NSU hatte der damalige Generalbundesanwalt Harald Range erklärt, es sei nicht zu erkennen, dass die Terrorzelle der bewaffnete Arm der NPD war. Im Verbotsverfahren spielt auch kaum eine Rolle, dass einer der Angeklagten im Münchner Prozess, Ralf Wohlleben, einst Vizechef der NPD in Thüringen war. Wohlleben hat mutmaßlich zusammen mit einem weiteren Angeklagten die Pistole Ceska 83 beschafft, mit der Mundlos und Böhnhardt neun Migranten erschossen. Der Fall Wohlleben kam aber beim Bundesverfassungsgericht in der mündlichen Verhandlung im NPD-Verbotsverfahren Anfang März nicht zur Sprache. Die Tatvorwürfe gegen Wohlleben werden nicht der Partei zugerechnet.

Wie ist die TV-Dokumentation der ARD zum NSU beim Publikum angekommen?

Ein „Tatort“ dauert 90 Minuten, dann ist der Mordfall geklärt, der Täter verhaftet. Diese Fernseh-Gewohnheit aus Störung-und-Wiederherstellung-der-Ordnung schalten in der Regel mehr als neun Millionen Zuschauer ein. Die am Mittwoch abgeschlossene NSU-Trilogie kann mit diesen Zahlen rein gar nicht mithalten: 2,89 Millionen, dann 2,34 Millionen, schließlich 2,81 Millionen Zuschauer. Dabei waren das auch drei Krimis, drei Mal ging es auch um die Frage, wie die Terrorzelle NSU über Jahre zehn Menschen mitten in Deutschland ermorden konnte. Aber, und damit ist schon ein wesentlicher Unterschied zum „Tatort“ markiert, die Frage und nicht die Fahndung stand im Zentrum. Die Filme „Die Täter“, „Die Opfer“ und „Die Ermittler“ waren fiktionalisierte Spurensuchen nach der Wahrheit. Tatsächlich konnten nur Perspektiven aufgezeigt werden, schon die Dokumentation nach Teil drei förderte neue Aspekte zum fragwürdigen Verbund von V-Männern und Trio zu Tage. Die drei mal 90 Minuten drehen sich um institutionelles Versagen, um die Verfasstheit von Ermittlungsbehörden und um die Befindlichkeit von Staat und Gesellschaft. 270 Minuten Fernsehen und ein Berg von Fragen. Das ist eine Zumutung an ein Publikum, das vom fiktionalen Fernsehen nur die Herausforderung des „Tatorts“ kennt.

Hat die ARD die schwierige Thematik falsch dargestellt?

Man muss deswegen nicht die ARD oder gar die ausbleibenden Zuschauer beschimpfen. Das Erste hat eine sehr große Anstrengung unternommen und dabei den Mut bewiesen, in einen längst nicht zu Ende gebrachten Aufklärungsprozess hinein Standpunkte zu formulieren. Sehr bemerkenswert in einem Fernsehsystem, das längst nicht mehr provokante Angebote liefern, sondern eilfertig Nachfrage füttern will. Siehe die „Tatort“-Serie. Die ARD hat durchaus Fehler gemacht, die gesellschaftliche Dimension blieb blass. Weil das NSU-Trio in der Trilogie quasi solitär agierte, erneuerte sie zu sehr die Ausrede: „Ich bin’s nicht, Adolf Hitler ist’s…“ Aber Rechtsradikalismus fing da nicht an und hörte da nicht auf. Das Fingerzeig-Fernsehen ist seiner (Sehn-)Sucht erlegen, Strukturen und Stimmungen zu personalisieren. Es ist für einen großen Zuschauererfolg eminent wichtig, dass es zu einer Identifikation, und wenn auch zu einer negativen Identifikation kommt. Etwas muss jemanden etwas angehen.

Der Schauspieler Sylvester Groth, engagiert als LKA-Mann im „Ermittler“-Film, hat sich über das „fatale Desinteresse“ an der ARD-Filmtrilogie geärgert. Kann man machen. Aber warum nicht die 2,89, die 2,31 und die 2,81 Millionen Zuschauer erwähnen, die sich drei mal 90 Minuten Düsternis-Fernsehen in Dunkel-Deutschland angesehen haben? Die sich von der Zumutung herausgefordert und nicht überfordert fühlten; die nach Kenntnisnahme der deprimierenden Tagesthemen nicht auf die Sonnenseite des Fernsehprogramms wechseln wollten. Auch das gehört zur Wahrheit: Das allgemeine Interesse am Beate-Zschäpe-Prozess in München wird nicht größer sein als das allgemeine Interesse an der NSU-Trilogie in der ARD.

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