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Erst die Flut, dann die Flucht. So sah es in Pakistan vor einem Jahr aus, Zigtausende mussten die überfluteten Regionen verlassen. Viele arme Familien haben bis heute kein neues Heim und leben in Notcamps. Foto: Matiullah Achakzai/dpa

© picture alliance / dpa

Ein Jahr nach der Flut: Pakistan zwischen Arm und Reich

Pakistan hatte die schwerste Flutkatastrophe in seiner Geschichte erlitten. Ein Jahr danach zeigt sich: Die Flut hat die sozialen Gegensätze im Land weiter wachsen lassen.

Erst kamen die Wolken, dann die ersten Schauer. Der Monsun hat wieder begonnen. Früher haben die Menschen den Monsun immer herbeigesehnt, denn er spendet Wasser für die Felder. Doch in diesem Jahr schauen viele mit Sorge in den Himmel. Ihnen sitzt noch der Albtraum vom vergangenen Jahr in den Knochen. Als der Regen nicht enden wollte, als die Flüsse immer weiter anschwollen und über ihre Ufer traten, als die Wassermassen erst einzelne Häuser fraßen, dann Dörfer und schließlich ganze Städte verschluckten. Am Ende stand ein Fünftel Pakistans unter Wasser – es war die größte Katastrophe, die dieses gebeutelte Land je heimgesucht hat.

Von einem „Tsunami in Zeitlupe“ sprach UN-Generalsekretär Ban Ki Moon damals. Ein Jahr ist das nun her. Aber Pakistan hat sich noch lange nicht von dem Naturdesaster erholt. Noch immer leidet das Land unter den Folgen der verheerenden Flut. Rund 20 Millionen Menschen waren betroffen, mehr als zehn Millionen verloren ihre Häuser, ihr Hab und Gut in den Fluten.

Hilfsorganisationen, die internationale Gemeinschaft, das Militär und der Staat leisteten damals Nothilfe, retteten Flutopfer, verteilten Nahrung, Wasser und Medikamente an die Gestrandeten. Doch inzwischen ziehen sich viele Helfer zurück, stockt die Hilfe, weil das Geld fehlt.

Doch noch immer hausen Millionen Menschen in Notcamps, vegetieren Großfamilien zusammengepfercht in Zelten. Andere sind zwar in ihre Dörfer zurückgekehrt, hausen aber zwischen Trümmern und Ruinen unter freiem Himmel. 1,5 Millionen Gebäude hat das Wasser zerstört, Häuser, Straßen, Brücken, Elektrizitätswerke. Zwölf Millionen Menschen kämpfen weiter darum, ihre Existenz wiederaufzubauen, schätzt das Rote Kreuz. Es sind die Armen, die das Desaster am härtesten traf. Sie hatten schon vor der Flut kaum genug zum Leben. Nun haben viele auch noch das bisschen verloren, was sie hatten: ein Dach über dem Kopf, ein paar Kleider zum Wechseln und Arbeit, um zu überleben.

Viele haben längst die Hoffnung verloren, dass sie jemals Hilfe erhalten. „Meine Felder wurden zerstört und mein Haus. Ich habe mein Handgelenk gebrochen, als ich versuchte, meine Familie zu retten“, klagt Azeemullah Khan aus dem Distrikt Charsadda in der Provinz Khyber Pakhtoonkhwa der UN-Behörde Irin. „Ich kämpfe jeden Tag, nur um Essen auf den Tisch zu bringen. Anfangs haben uns noch einige Hilfsorganisationen unterstützt, aber nun sind wir auf uns alleine gestellt. Von den Regierungsmitarbeitern kommen nur leere Versprechungen.“

Die Flutkatastrophe hat viele Arme noch ein Stück näher an den Abgrund gedrängt. Traurige Geschichten kursieren. Von Eltern, die ihre Töchter mit zwölf Jahren verheiraten, weil sie nicht mehr wissen, wie sie alle Kinder satt bekommen können. Von Kindern, die auf den Feldern der Feudalherren schuften müssen, weil ihre Eltern die Schulden nicht mehr bezahlen können. Und von jungen Mädchen, die in den Bordellen der großen Städte landen. Wie Nida. Die 16-Jährige war von ihrem Vater für eine Mitgift von 580 Dollar verheiratet worden, damit er das zerstörte Haus wiederaufbauen konnte. Doch ihr „Ehemann“ habe sie umgehend an einen Puff weiterverkauft, erzählt sie Mitarbeitern einer Hilfsorganisation.

Die Antwort aus dem Ausland auf die Tragödie fiel seltsam zurückhaltend aus. Nur spärlich flossen die Spenden. Vielleicht waren die Menschen im Westen einfach spendenmüde, weil zuvor das Erdbeben in Haiti gewütet hatte. Vielleicht wollte auch niemand mehr Geld locker machen für dieses seltsame, hoffnungslose Land, das als hoch korrupt und als Terrorwiege gilt.

Selbst dramatische Hilferufe der Vereinten Nationen wurden von der Weltgemeinschaft nur unwillig und widerstrebend erhört. Dabei wäre jeder Staat mit dem Ausmaß der Katastrophe überfordert gewesen. Und Pakistan war es allemal. Ein Unglück kommt selten allein – die Wassermassen trafen ein Land, das wirtschaftlich ohnehin längst am Boden lag. „Die Flut 2010 hat einen schwerwiegenden Effekt auf das Leben der Menschen, ihre Unterkunft und ihren Besitz gehabt“, heißt es in einem Bericht der pakistanischen Regierung. Die Flut habe etwa zwei Prozentpunkte des jährlichen Wachstums der pakistanischen Wirtschaft zunichtegemacht und Schaden von zehn Milliarden US-Dollar an der Infrastruktur angerichtet. Auch die Vereinten Nationen erklären, dass immer noch „massive Anstrengungen“ nötig seien, auch um sich gegen künftige solche Fluten besser zu schützen.

Zwar haben Militär und Regierung zumindest die Infrastruktur inzwischen wieder aufgebaut, Strom- und Straßennetz geflickt. Doch die meisten Menschen müssen zusehen, wie sie zurechtkommen. Die Provinz Sindh ist die Getreidekammer Pakistans. Und trotzdem waren hier schon vor der Flut ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen mangel- und unterernährt, zu gut Deutsch: litten Hunger. Wie in den meisten Ländern Südasiens klafft auch in Pakistan zwischen Arm und Reich eine riesige Lücke. Im Sindh haben bis heute Großgrundbesitzer das Sagen, die die Armen oft wie Leibeigene halten.

Und Reiche stehen in Pakistan noch immer allzu oft über dem Gesetz. Das Leid der Armen zählt zudem wenig in den Ländern Südasiens. Selbst in vielen Zeitungen Pakistans schien die Flut bald vergessen, rückten andere Themen in den Vordergrund. Pakistans Elite lebt in ihrer eigenen Welt, weit weg von der Massenarmut auf dem Lande oder den Slums. Viele Reiche haben zwei Pässe und Häuser im Ausland. Und sollte das Land explodieren oder implodieren, dann machen sie sich einfach aus dem Staub und nehmen den nächsten Flieger außer Landes.

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