zum Hauptinhalt
Foto: science photo library; Gestaltung: Sabine Wilms

© Science Photo Library

Privatkassen in der Krise: Wie krank ist unser Gesundheitssystem?

Die privaten Versicherer sind unter Druck geraten: Sie haben Kosten unterschätzt und erhöhen ständig die Beiträge. Die Opposition würde sie am liebsten abschaffen. Doch auch dabei lauern Risiken.

Bei manchem Anbieter steigen die Prämien sprunghaft und der Ärger bei den Versicherten wächst: Die privaten Krankenversicherungen in Deutschland sind unter Druck. Mit der Forderung nach einer Bürgerversicherung wollen SPD, Grüne und Linke im Wahlkampf punkten. Fünf Monate vor der Bundestagswahl rückt die Zukunft des deutschen Gesundheitssystems wieder stärker ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen.

Die Grundstruktur des deutschen Krankenversicherungsmarkts ist weltweit einzigartig. Während gut 89 Prozent der Bürger gesetzlich versichert sind, haben die übrigen elf Prozent – vor allem Beamte, Selbstständige und besser verdienende Arbeitnehmer – eine private Versicherung.Doch wie zukunftsfähig ist dieses Nebeneinander auf Dauer? Kommt das Land um ein Einheitssystem herum – und befindet es sich nicht längst auf dem Weg dahin? SPD und Grüne haben angekündigt, im Falle eines Regierungswechsels eine Bürgerversicherung für alle einzuführen. Linke und Gewerkschaften fordern dies ebenfalls. Und selbst in der Union gibt es zunehmend Zweifel an der Überlebensfähigkeit der Privaten in ihrer jetzigen Form – auch wenn dies vor der Bundestagswahl dort kaum einer offen anspricht.

Dabei sind die Positionen in der ideologiebeladenen Debatte nicht neu. Die privaten Kassen werfen den gesetzlichen vor, auf Kosten des Steuerzahlers zu leben und nicht für die Alterung der Gesellschaft gerüstet zu sein. AOK, Barmer & Co geißeln im Gegenzug die Rosinenpickerei der Privaten und kritisieren, dass sich dort Versicherte ihrer Solidaritätspflicht entziehen. Doch während es der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) dank der konjunkturellen Entwicklung so gut geht wie seit langem nicht mehr, haben sich die Probleme des privaten Systems (PKV) verschärft. Dessen Krise äußert sich auf verschiedene Weise: durch Hilflosigkeit angesichts überproportionaler Kostensteigerungen, durch offenbar nicht ausreichende Altersrückstellungen, durch Probleme beim Anbieter- oder Tarifwechsel und durch ein Leistungsspektrum, das dem der GKV nicht mehr automatisch überlegen ist.

In der Kritik stehen die Privatkassen inzwischen regelmäßig, wenn sie ihre Prämiensteigerungen bekannt geben müssen. Nach Angaben der staatlichen Finanzaufsicht Bafin schwankten die jährlichen Erhöhungen in den Jahren 2000 bis 2010 über alle Unternehmen zwischen 3,4 und 7,6 Prozent. In der GKV dagegen lag das Plus im gleichen Zeitraum bei maximal 4,2 Prozent, in einigen Jahren gingen die Kassenbeiträge sogar zurück oder blieben konstant. Für viele Privatversicherte sind die ständigen Preiserhöhungen schwer zu schultern, da es sich bei ihnen keineswegs, wie vielfach unterstellt, nur um finanziell Bessergestellte handelt. Im Jahr 2008 kam dort nur jeder Fünfte auf ein Einkommen über der Versicherungspflichtgrenze (damals 4012,50 Euro im Monat). Zurückzuführen sind die ständigen Prämienerhöhungen vor allem auf die Kostensteigerungen durch Demografie und medizinischen Fortschritt, mit denen die Privaten trotz ihrer Rücklagen schlechter zurecht kommen als die gesetzlichen Kassen. Das liegt vor allem daran, dass sie anders als die Konkurrenz über kein Instrumentarium verfügen, um auf Preise, Behandlungsmengen und Qualität Einfluss zu nehmen. Die Privatkassen müssen zahlen, was ihre Versicherten im Vertrag stehen haben, egal, ob medizinisch sinnvoll oder nicht. Eine neue Gebührenordnung, die den Versicherern mehr Verhandlungsspielraum bieten würde, ist gerade wieder an der Gegenwehr der Ärzte gescheitert.

Um den Kostenanstieg zu drosseln, benötigten die Privaten Hilfe von außen. So mussten sie nach dem Gesetzgeber rufen, um den Provisionswettlauf für ihre Versicherungsvertreter zu stoppen. Um ihre Arzneipreise senken zu können, machten sie sich außerdem von den Rabattverhandlern der gesetzlichen Kassen abhängig. Aus Expertensicht beides Belege, dass es mit der Überlegenheit des privaten Systems nicht so weit her sein kann. Und ausgerechnet dort, wo sich das Privatkassensystem dem gesetzlichen so überlegen fühlt, stellte die Unternehmensberatung McKinsey Schlamperei fest – bei den Rückstellungen. Die Privaten, so der Befund, unterschätzten gleich dreierlei: die Kosten des medizinischen Fortschritts, den Anstieg der Lebenserwartung und den Rückgang der Zinsrenditen. Zwar haben die Privatkassen für ihre Versicherten inzwischen fast 170 Milliarden Euro auf der hohen Kante, um steigende Gesundheitskosten im Alter abfedern zu können. Doch wegen der niedrigen Zinsen ist mit Neuanlagen die bisherige Kalkulationsgrundlage von 3,5 Prozent nicht mehr ansatzweise zu erreichen. Die Wichtigsten der Branche haben ihren Rechnungszins bereits auf 2,75 Prozent herunterfahren müssen – was ihre Tarife entsprechend verteuert.

Für den früheren Wirtschaftsweisen Bert Rürup ist das Hauptproblem der PKV, dass die Unternehmen in erster Linie um Neukunden konkurrieren. Das private System sei nicht in der Lage, Ältere und Kranke effizient abzusichern, heißt es in einer Studie mit dem Berliner Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (Iges) aus dem Jahr 2010. Sinngemäß lautet der Befund: Der Kunde ist auf Gedeih und Verderb an seinen Versicherer gekettet. Um seine Beiträge im Alter bezahlbar zu halten, muss er seinen Schutz immer weiter abspecken. Schließlich kann er im Alter weder zurück zu einer gesetzlichen Kasse noch zu einem anderen Anbieter, weil er dann seine Rückstellungen verlöre und noch mehr zahlen müsste.

Die steigenden Prämien sind den deutlich höheren Leistungsausgaben geschuldet. So kam die PKV 2011 im Schnitt für jeden Versicherten auf Kosten von 3289 Euro. Bei Kassenpatienten waren es nur 2423 Euro. Dabei sind keineswegs alle Privatpatienten bei der Behandlung besser gestellt. Das zeigt eine Studie des Gesundheitsökonomen Thomas Drabinski, der im vergangenen Jahr die besten Tarife in der PKV mit den Leistungen der gesetzlichen Kassen verglichen hat. Wer privat versichert ist, bekommt zwar in der Regel schneller einen Arzttermin. Und grundsätzlich wird auch mehr erstattet. Doch bei vielen Tarifen entdeckte der Kieler Wissenschaftler „massive Leistungsausschlüsse“: bei der Reha nach Operationen etwa, bei Heilmitteln, bei künstlicher Ernährung oder der Übernahme von Psychotherapie-Kosten. Die Kölner Ratingagentur Assekurata stellte im März 2013 fest, dass auch die neuen Unisex-Tarife bei der Mindestabsicherung oft nicht an das GKV-Niveau herankommen.

Das deckt sich mit der Wahrnehmung der Versicherten. Die Überzeugung, als Privatpatient im Krankheitsfall besser abgesichert zu sein, hat sich laut einer Allensbach-Umfrage von Ende 2012 deutlich verringert. Bei den gesetzlich Versicherten sind nur noch 42 Prozent dieser Ansicht, drei Jahre zuvor waren es noch 58 Prozent. Auch von den Privatversicherten fühlen sich nur noch 75 Prozent besser gestellt – gegenüber 80 Prozent im Jahr 2009. Dagegen steigt der Wunsch nach einem einheitlichen System. 58 Prozent wünschten laut Allensbach, dass sich auch Beamte, Selbstständige und gut verdienende Angestellte gesetzlich versichern müssen. Gegen die Zusammenlegung der getrennten Systeme votierten nur 33 Prozent. Und was viele überraschte: Selbst eine knappe Mehrheit der Ärzte würde die Einführung einer Bürgerversicherung begrüßen.

Wie die konkret aussehen könnte, ist aber auch bei den Befürwortern noch umstritten. Gemein ist den Konzepten von SPD und Grünen, dass die private Vollversicherung auf Dauer abgeschafft würde. Während die Grünen aber gleich auch alle Bestandskunden der PKV in ein gesetzliches System befördern wollen, planen die Sozialdemokraten, die privaten Vollversicherungen erst mal nur für Neukunden zu schließen. Wer bereits privat versichert ist, soll wählen können, ob er bleibt und bekommt dafür ein Jahr Zeit.

Unterschiede gibt es auch bei der Finanzierung. Die SPD will zunehmend Steuermittel ins Gesundheitssystem fließen lassen. Die Grünen dagegen wollen die Beitragserhebung verändern: Berücksichtigt werden sollen nicht mehr nur aus Arbeitseinkommen und Renten, sondern auch Kapitaleinkünfte, etwa Aktiengewinne, Zinsen oder Mieteinnahmen. Gleichzeitig soll die Beitragsbemessungsgrenze auf das in der Rentenversicherung geltende Niveau (derzeit 5800 Euro) steigen. Für besser Verdienende und Bürger mit hohen Kapitaleinkünften würde die Krankenversicherung damit teurer. Insgesamt aber ließe sich der Beitragssatz nach Berechnungen des Bremer Gesundheitsökonomen Heinz Rothgang um bis zu 1,6 Prozentpunkte senken.

Union und FDP dagegen verteidigen das Doppelsystem – etwa mit dem Argument, dass die Konkurrenz der PKV auch bei den gesetzlichen Kassen Kürzungen verhindert. Doch selbst in der CDU bröckelt die Front. Dass sich nur Selbstständige, Beamte und Gutverdiener privat versichern können, sei nicht mehr zeitgemäß, monierte ihr Gesundheitsexperte Jens Spahn vor einiger Zeit. Die Trennung lasse sich „nur noch historisch begründen“, sie fände „nicht einmal mehr auf einer CDU-Mitgliederversammlung eine Mehrheit“. Und aus den Geldnöten der PKV werde „mittlerweile eine sozialpolitische Frage“.

Die PKV-Funktionäre registrieren den schwindenden politischen Rückhalt mit Sorge. In ihrem Kampf gegen die „Bürgerzwangsversicherung“ fühlen sie sich durch die Ergebnisse einer Studie bestärkt, die ausgerechnet von der Gewerkschaft Verdi in Auftrag gegeben wurde. Demnach würde die Überführung der PKV in eine gesetzliche Bürgerversicherung 100 000 Arbeitsplätze in der privaten Versicherungsbranche vernichten – die Hälfte davon gleich im Einführungsjahr. Allein der sofortige Stopp des Neugeschäftes würde „zum sofortigen Verlust von 25 000 Arbeitsplätzen führen“, heißt es in der Untersuchung des Berliner Gesundheitsforschers Robert Paquet. Zudem würden „einige zehntausend selbstständige Versicherungsvermittler ihre Erwerbsmöglichkeit verlieren“. PKV-Verbandschef Reinhold Schulte warnt deshalb eindringlich vor der Zerstörung einer „funktionierenden Branche“.

Natürlich sieht das aus Versichertensicht ein wenig anders aus. Die Kosten für PKV-Arbeitsplätze und Vermittlerprovisionen müssen ja die Mitglieder aufbringen. Sie hätten durchaus etwas davon, wenn die Verwaltungskosten durch das Verschwinden von Doppelstrukturen geringer würden. Außerdem gibt es sogar in der Branche Zweifel daran, ob das Geschäft mit den Vollversicherungen auf Dauer lukrativ ist – zumal es immer schwerer wird, Neukunden zu gewinnen. Offiziell mag das im Moment aber keiner sagen, denn im Wahljahr gilt es erst einmal, die Pläne der Opposition zu verhindern. Und so rechnet der PKV-Verband vor, dass die Privatkassen mit ihren neun Millionen Vollversicherten 72,5 Prozent des Umsatzes erwirtschaften. Die Zusatzversicherungen brächten nicht einmal 20 Prozent. „Um einen Wegfall der Vollversicherung nur auszugleichen, müsste man mehr als 95 Millionen Zusatzversicherungen zusätzlich verkaufen“, sagt Verbandssprecher Stefan Reker. Ein Ding der Unmöglichkeit.

Das alles kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die beiden Systeme immer stärker annähern. Die gesetzlichen Kassen haben sich zu Dienstleistern gemausert, sie bieten ihren „Kunden“ längst auch Wahltarife und auf Wunsch sogar die bei der PKV übliche Kostenerstattung an. Die Privaten dagegen müssen seit einiger Zeit auch einen „Basistarif“ offerieren, bei dem sie Antragsteller mit Vorerkrankungen weder ablehnen noch mit höheren Prämien belasten dürfen wie sonst üblich. Und wenn irgendwann auch noch ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung geht, Preise und Leistungsmengen drücken zu dürfen, ist es tatsächlich nicht mehr weit zu einem einheitlichen Versicherungsmarkt. Auch ohne Regierungswechsel und Bürgerversicherung.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false