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Oskar Gröning vor Gericht.

© Julian Stratenschulte/AFP

Prozess gegen Oskar Gröning, "Buchhalter von Auschwitz": Ganz normale Männer

Wer dem früheren "Buchhalter von Auschwitz" zuhört, bekommt eine Ahnung davon, warum so viele Deutsche mithalfen beim Massenmord an den Juden. Warum der Prozess gegen Oskar Gröning so wichtig ist, auch jetzt noch. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Claudia von Salzen

„Auschwitz wird, obgleich umdrängt von erklärenden Wörtern, nie zu begreifen sein.“

Der Schriftsteller Günter Grass hielt 1990 einen Vortrag über das „Schreiben nach Auschwitz“. Obwohl er ausführlich aus seinem Leben erzählte, verschwieg er damals noch, dass er selbst Mitglied der Waffen-SS war. Über Auschwitz zu schreiben, das Tor zur Hölle in einem Ort namens Birkenau, war in den vergangenen sieben Jahrzehnten durchaus möglich. Unzählige Bücher und Filme versuchen sich dem Unbegreiflichen anzunähern und das Grauen in Worte zu fassen. Von denjenigen, die Adolf Hitler begeistert zujubelten, und denen, die den Massenmord an den Juden erst möglich machten, war jedoch kaum etwas zu hören.

Doch nun muss sich Oskar Gröning, auch er damals Freiwilliger in der Waffen-SS, wegen Beihilfe zum Mord verantworten. Seit einem halben Jahrhundert hat in einem Gerichtssaal niemand mehr so über Auschwitz gesprochen. Sachlich und unbewegt beschreibt Gröning die Abläufe der Mordmaschinerie. Am Ende spricht er von moralischer Mitschuld, von Reue und Demut. Doch am nächsten Tag schildert der frühere „Buchhalter von Auschwitz“ den Massenmord wieder ohne Entsetzen, ohne Trauer.

Oskar Gröning führte zunächst ein ganz normales Leben

In diesem Prozess wird auch deutlich, wie nahe dieser Mann vielen Deutschen ist. Aufgewachsen in einer norddeutschen Kleinstadt, mittlere Reife, Sparkassenlehre. Ein ganz normales Leben. Es geht eben nicht um Eichmann, den Organisator des Holocaust, nicht um Mengele und seine Menschenversuche, auch nicht um „Iwan, den Schrecklichen“, einen besonders brutalen Wachmann in Treblinka. Die Täter des Holocaust waren „ganz normale Männer“, wie der Historiker Christopher Browning in seinem Buch über ein deutsches Polizeibataillon betont. Wer Gröning zuhört, bekommt eine Ahnung davon, warum so viele Deutsche nicht nur tatenlos zusahen, sondern mithalfen beim Massenmord an den europäischen Juden. Das deutschnationale Elternhaus, die Sozialisierung in der Hitlerjugend, der Wunsch, einer kleinen Elite anzugehören. Die Ideologie wird in fast religiöser Weise geglaubt, Befehle werden befolgt, und mit dem Krieg kommt die Entgrenzung der Gewalt.

Nach diesen „normalen“ Männern und Frauen, ohne die es die Todesfabriken nicht gegeben hätte, hat die deutsche Justiz lange nicht gesucht. Deswegen steht heute ein 93-Jähriger vor Gericht. Warum einem Greis den Prozess machen, der im Fall einer Verurteilung wohl nicht mehr mit Gefängnis rechnen muss? Warum den „Buchhalter von Auschwitz“ vor Gericht stellen, wenn höherrangige SS-Offiziere straflos davongekommen sind?

Juristisch betrachtet lautet die Antwort, dass der Staat verpflichtet ist, schwere Straftaten zu verfolgen. Und Mord verjährt nicht – auch das hat mit der deutschen Geschichte zu tun. Denn um die Helfer und Schreibtischtäter noch verfolgen zu können, wurde die Verjährungsfrist abgeschafft. Ihrem Auftrag kam die Justiz allerdings nur unzureichend nach. Seit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess in den sechziger Jahren tat sich nicht mehr viel. In Verfahren zum Massenmord in den Vernichtungslagern Belzec und Sobibor wurden mehrere Angeklagte freigesprochen, die Richter gestanden ihnen einen „Befehlsnotstand“ zu. Vor 30 Jahren stellte ein Frankfurter Staatsanwalt Ermittlungen gegen Gröning und andere SS-Männer ein, er sah keinen „hinreichenden Tatverdacht“. Das Thema war für ihn offenbar so unwichtig, dass er es nicht einmal für nötig hielt, seine Entscheidung zu begründen.

Versagen der deutschen Justiz

Das skandalöse Verhalten der deutschen Justiz, das im besten Fall von Gleichgültigkeit zeugt, tritt durch das Lüneburger Verfahren deutlich hervor. Denn eine neue Rechtslage gibt es keineswegs, auch nicht nach dem Münchner Urteil gegen den früheren SS-Wachmann John Demjanjuk. Geändert hat sich nur die Bereitschaft, das Prinzip der Beihilfe auch auf die Wachleute in Vernichtungslagern anzuwenden. Nur weil die meisten Mittäter straflos davonkamen, kann man dieses Unrecht nicht fortsetzen, wenn man es endlich als Unrecht erkannt hat.

Wichtig ist dieses Verfahren aber auch um der Nebenkläger willen. Sie, die selbst nur wenig jünger sind als der Angeklagte, trauern bis heute um ihre ermordeten Angehörigen. Dass die deutsche Justiz 70 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus nicht einfach einen Schlussstrich unter die Verbrechen zieht, ist Deutschland den jüdischen Nebenklägern schuldig. Wenigstens das.

Eine von ihnen, die Auschwitz-Überlebende Eva Kor, nutzte ihre Rolle als Nebenklägerin, um Gröning öffentlich zu verzeihen und zu umarmen. Angesichts ihrer entsetzlichen Erlebnisse in Auschwitz verdient ihre Bereitschaft zur Versöhnung Respekt. Doch mit dem Prozess selbst hat das nichts zu tun, der Gerichtssaal war nur die Bühne für diese Geste. Ob Eva Kor dem Angeklagten vergeben kann, ist ihre ganz persönliche Sache. Vor Gericht hingegen geht es um die Frage der Schuld – und eine Tat, die sich bis heute dem Begreifen entzieht.

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