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Die Ukrainerin Jamala freut sich über ihren Sieg beim ESC.

© dpa

Russland, Türkei, China: Wenn die historische Wahrheit den Nationalstolz gefährdet

Russen hadern mit der ESC-Siegerin, Türken warnen vor Armenien-Resolution, China hält zu Mao: Das Aushalten von Brüchen, von Schande und Schmach, ist oft verpönt. Ein Kommentar zu einer Geschichte, die nicht sein darf.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Zeitlich zufällig, so scheint es, werden diese drei Meldungen verbreitet: „Türkei warnt vor Armenien-Resolution“, „Russland wittert Betrug beim ESC“, „50 Jahre Kulturrevolution in China“. Dabei deuten sie auf ein gemeinsames Phänomen hin: In der Türkei, Russland und China wird ein Teil der Vergangenheit beschönigt, oder gar verdrängt. Die Angst geht um, durch Benennung historischer Verbrechen den Nationalstolz zu gefährden. Das Aushalten von Brüchen, von Schande und Schmach, ist verpönt.

„Wo es keine Erinnerung gibt, hält das Böse die Wunden offen“, hat Papst Franziskus vor einem Jahr gesagt, als er die Ermordung von rund 1,5 Millionen Armeniern im Osmanischen Reich als „Völkermord“ bezeichnete. Auch damals tobte die Regierung in Ankara – so wie jetzt wieder, da Union, SPD und Grüne am 2. Juni im Bundestag eine Resolution verabschieden wollen mit dem Titel: „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten vor 101 Jahren“. Wegen der türkischen Empfindlichkeiten bei diesem Thema dürfte der Streit um die Armenien-Resolution noch weitaus heftiger ausfallen als der um Jan Böhmermanns „Schmähgedicht“.

Der Kult um Stalin ist heute lebendiger denn je

In Russland wiederum wird Wut geschnaubt, weil die Ukrainerin Jamala den Eurovision Song Contest mit dem Lied „1944“ gewonnen hat, das dem Leiden der Krim-Tataren gewidmet ist. Die nämlich waren von Josef Stalin just in dem Jahr, 1944, deportiert worden. Daran wird man in Moskau ebenso ungern erinnert wie etwa an den Holodomor, den „Mord durch Hunger“, an rund drei Millionen Ukrainern im Winter 1932/1933.

Zwar wurden bereits auf dem 20. Parteitag der KPdSU, im Februar 1956, einige Verbrechen Stalins benannt. Doch eine volle Aufarbeitung dieser Epoche hat es nie gegeben. Stalin hatte im Großen Vaterländischen Krieg Hitler besiegt, die Rote Armee hatte Europa vom Faschismus befreit, Millionen Russen hatten in diesem Kampf ihr Leben gelassen. Die Verehrung Stalins, der Kult um den Diktator, ist heute lebendiger denn je.

Auch in China distanzierte sich die Nomenklatura schon früh von Mao Zedongs „Großer Proletarischer Kulturrevolution“, durch die ab 1966 weit über eine Million Menschen ermordet worden waren. Man sprach offiziell von einer „Katastrophe“. Doch am überwiegend positiven Bild des Parteigründers durfte das nichts ändern. Das Mao-Mausoleum wurde bewusst im Zentrum des Platzes des Himmlischen Friedens in Peking erbaut, denn damit steht es symbolisch im Zentrum des Landes. Ein öffentliches Erinnern an die Opfer der Kulturrevolution durfte es in China zum 50. Jahrestag nicht geben.

„Hitler hat den Deutschen das Rückgrat gebrochen“, hat Alexander Gauland von der AfD vor kurzem gesagt. Das stimmt nicht. Vielmehr hat ihnen die offene Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus die Angst vor jener Verklemmung genommen, die andere Völker in Konfrontation mit ihrer Vergangenheit befällt. Ein Israeli, der beim ESC über den Holocaust singt, würde in Deutschland keinen Skandal auslösen. Gut möglich, dass das Lied eher als Beitrag zur allgemeinen Erinnerungskultur gewürdigt wird.

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