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Die Stimmung war schon besser: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD).

© AFP

Russland und die große Koalition: Sind die Deutschen wirklich im Westen angekommen?

Lange dachte man, Deutschland sei ein normales westliches Land. Doch 2014 hat sich gezeigt: Hier gibt es eine besondere Russlandverklärung. Und die Deutschen sehnen sich nach Konsens, mehr als nach politischem Wettbewerb. Wirklich westlich ist beides nicht. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Fabian Leber

Der amerikanische Journalist George Packer schrieb kürzlich im „New Yorker“ einen Text über den „erstaunlichen Aufstieg der Angela Merkel“. In dem viel beachteten Artikel zeichnet er ein Bild Deutschlands im neunten Jahr ihrer Kanzlerschaft. Es ist ein gespenstisches Bild. Packer stellt die Frage, welches Land das eigentlich sei, in dem es keine Lust mehr gebe auf echte politische Auseinandersetzung. Merkels Deutschland vergleicht er mit Eisenhowers USA. Es herrsche ein politischer Konsens, der auf wirtschaftlichem Erfolg beruhe, mit einer selbstzufriedenen Bevölkerung, willfährigen Medien und einem beliebten Führer, der kaum von der öffentlichen Meinung abweiche. Er schreibt: „Auf was Amerikaner heutzutage neidisch sein könnten, das erfüllt umsichtige Deutsche mit Sorge: Ihre Demokratie ist nicht alt genug, um ihr eine Pause zu gönnen.“

2014 hat sich tatsächlich so stark wie nie seit 1945 die Frage gestellt, wie sehr die Deutschen im Westen angekommen sind. Auf sein gleichnamiges Werk angesprochen, sagt der Historiker Heinrich August Winkler: „Der lange Weg nach Westen ist, wie sich zeigt, noch lange nicht abgeschlossen.“

Die Hinwendung nach Russland war lange ein Mittel zur Abgrenzung gegenüber dem Westen

Zwei Indizien sprechen dafür: Einmal eine offenbar tief im Unterbewussten verankerte Russlandverklärung vieler Deutscher, nicht nur im Osten des Landes. Und zum anderen eine Sehnsucht nach Konsens, die in der großen Koalition und der weitgehenden Ausschaltung des politischen Wettbewerbs ihren Ausdruck findet.

Hier zeigen sich zwei Seiten einer Medaille. Wie Packer vermerkt, hatte Thomas Mann wohl nicht zufällig seine Eloge an die angebliche Seelenverwandtschaft zwischen Deutschen und Russen 1918 als „Betrachtungen eines Unpolitischen“ deklariert. In der deutschen Geschichte war die Hinwendung nach Russland lange ein Mittel, um sich gegen „den Westen“ abzugrenzen. Vernunft, Pluralismus und persönliche Freiheit – diese für den Westen konstituierenden Werte erlebten – in der Bundesrepublik – erst dann ihren Durchbruch, als Deutschland in Trümmern lag. Ist westliches Denken hier womöglich immer noch eher antrainiert als in der Psyche verankert?

Noch die Weimarer Republik war geprägt davon, dass politischer Streit gerade nicht als etwas Positives galt. Sie scheiterte nicht in erster Linie an Zersplitterung, sondern daran, dass es für Demokraten zu wenig auszuwählen gab. Bis tief ins 20. Jahrhundert konnte eine Denktradition sich halten, die ihre Wurzeln in der deutschen Romantik und im Idealismus hat – die obskure Idee einer organischen Gemeinschaft, die Gegensätze durch Zusammenwachsen überwindet. Einer Gemeinschaft, in der Privatsphäre nicht viel zählt, weil es für den Einzelnen, wie Hegel schrieb, ohnehin nur um den „Nachvollzug des Notwendigen“ gehe. Des Alternativlosen könnte man auch sagen. In einer solchen „Gemeinschaft“ sind Parteien naturgemäß verhasst.

Als in London oder Washington schon längst ein Zweiparteiensystem funktionierte, stand Bismarck in Berlin deshalb nicht allein mit seiner Behauptung, Parteien seien „der Verderb unserer Zukunft“. Schon damals aber gab es eine lange angelsächsische Tradition der Westminster-Demokratie. Konkurrenz ist für sie ein Wert an sich. Weil sie für Dynamik sorgt. „Her Majesty’s Most Loyal Opposition“ genießt Respekt, hier regiert der Satz: „Opposition ist Mist.“

Parteien werden dann gemocht, wenn sie möglichst wenig als Partei erkennbar sind

Kann es sein, dass in den Deutschen noch ein bisschen von Hegel steckt? Bis in die Gegenwart scheinen deutsche Parteien vor allem dann zu profitieren, wenn sie möglichst wenig als Partei erkennbar sind. So wie Merkels CDU zurzeit.

So verwundert es wenig, dass die Polarisierung des amerikanischen Parteiensystems hier oft als gesellschaftliches Versagen gewertet wird – während in der Russland-Politik kaum noch jemand die Frage stellt, ob es historisch zwangsläufig ist, dass das Land keinen demokratischen Wettstreit kennt. Und ob der Hauptgrund für den russischen Absturz nicht eher in dessen autoritär-antiquiertem Regierungssystem zu sehen ist als in einer angeblichen Einkreisung durch den Westen.

Eine Ironie der Geschichte ist es übrigens, dass zurzeit ausgerechnet die Russland-freundliche Linkspartei in Thüringen dafür sorgt, dass der demokratische Wettbewerb dort ein bisschen in die Gänge kommt. Man mag sich über die Uneinsichtigkeit und Unfähigkeit der Linken, sich glaubwürdig vom SED-Regime zu distanzieren, noch so sehr ärgern: Gegen eine starke Opposition zu regieren, ist doch eher ein westliches Modell.

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