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M wie #metoo

© imago/Pacific Press Agency

Silvester-Rückblick: Das war das politische Jahr von A bis Z

Ob B wie Brexit oder O wie Obergrenze, M wie metoo oder V wie Videobeweis: Ein Rückblick auf die subjektiv 26 prägendsten Begriffe des Jahres.

A wie AfD

Die „Alternative für Deutschland“ ist formal eine Partei, viel eher aber eine Art Ventil, durch das zischend der Unmut vieler Wähler entwichen ist über die stoische Weiter- so-Politik der Kanzlerin und die Distanz der etablierten Politiker zu bestimmten unangenehmen Themen. Seit diesem Jahr sitzt die seltsame rechtsdrehende Verbindung aus diskursfähigen Konservativen, karrieregeilen Posern und Rechtsradikalen mit Nazigeschmack auch im Bundestag und fällt dabei bislang eher durch übertriebene Formbeflissenheit als durch revolutionäre Reden auf – keiner schmettert die Nationalhymne lauter.

Wohin die Truppe wirklich marschiert, wird sich wohl erst zeigen, wenn eine Bundesregierung zum Dagegen-Opponieren gefunden ist. Bislang wird anscheinend alles von Alexander Gauland mit strammer Hundekrawatte zusammengehalten. Der starke Mann der Partei, der sich zum Ko-Bundessprecher wählen ließ, um eine Spaltung zu verhindern, gab aber im Zweifelsfall immer dem rechten Flügel Vorfahrt, wovon Bernd Lucke (schon vergessen) und Frauke Petry ein vielstrophiges Lied singen können.

B wie Brexit

Aus der Wiener Staatsoper wird von einem Besucher berichtet, der einmal vor lauter Begeisterung übers ganz hohe C versehentlich aus der Loge ins Parkett stürzte. Um nicht zugeben zu müssen, dass das eine peinliche Dummheit war, soll er das schmerzhafte Manöver mehrmals absichtlich wiederholt haben. Diese Farce wiederholt sich nun als Tragödie namens „Brexit“, als vermutlich größter politischer Fehler, seit die Trojaner das komische Pferd in ihre Stadt geholt haben.

Die faszinierende Parallele zur Staatsoper besteht nicht darin, dass eine Koalition aus gewissenlosen populistischen Lügnern wie Boris Johnson das Plebiszit gekapert hat, sondern darin, dass sich niemand findet, der nun im Vollbesitz aller einschlägigen Tatsachen und Kostenrechnungen deutlich sagt, dass mal Schluss sein muss mit dem Irrsinn, bevor es zu spät ist und Britannia nichts mehr beherrschen kann außer den Wellen des Nordatlantiks innerhalb der Zwölf-Meilen-Zone. Theresa May hat ihren Platz unter den großen tragischen Figuren der Historie schon jetzt sicher, so oder so.

C wie covfefe

US-Präsident Donald Trump twittert entfesselt an allen Mitarbeitern, Ärzten und Rechtsanwälten vorbei, was ihm gerade so durch die Birne flitzt, das ist ein bewährtes Erfolgsrezept, mit dem er zumindest die hartnäckigen Follower seiner Regentschaft bei der Stange hält. Aber was sollte jetzt „despite the constant negative press covfefe“ bedeuten? Geheimdienste aller Länder, die USA eingeschlossen, fuhren am 31. Mai ihre Supercomputer hoch, um Licht in die Sache zu bringen.

Hat der Typ sein Handy beim Daddeln aus Versehen auf Aramäisch umgestellt? Kann man mit diesem Code die verdammten Atomraketen entsichern? Ergebnisse sind bislang nicht bekannt geworden, das legt den Verdacht nahe, dass es keine gibt. So steht „covfefe“ erratisch für einen Präsidenten, der das, was er tut, stets für richtig und absolutely great hält. Und damit bestätigt es die alte Erkenntnis James Bonds, dass ein Einzelner mit viel Kohle und wenig Skrupeln nicht groß erklären muss, weshalb er den Globus zum Eiern bringt.

D wie Dieselgipfel

Die ganze Welt guckt begeistert die Reality-Soap „Deutschland schrottet seine Schlüsselindustrien“. Nach dem Mega-Erfolg der ersten Staffel „Energiewende“ wurde nun auch „Dieselgipfel“ wieder zum Straßenfeger, denn es flimmerte 2017 ohne Pause über die Bildschirme als Zusammenkunft ratloser Verantwortungsträger mit der ratlosen Kanzlerin.

Bei den Zuschauerpreisen für die aktuelle Staffel triumphierte VW-Chef Matthias Müller. Er gewann die Kategorien „Greenwashing à gogo“ und „Bester Kundendienst“ für seine fehlerfrei vorgeführte Rolle rückwärts mit doppeltem Schraubensalto: Erst prellte der Konzern hunderttausende von Diesel- Käufern allein in Deutschland mit seiner Schummel-Software, dann wünschte der Chef ihnen kurz vor Weihnachten auch noch drastische Steuererhöhungen an den Hals. Solche waghalsigen Wenden aus voller Fahrt kommen garantiert nicht von ungefähr: Steht dahinter ein Deal mit dem Kanzleramt, das verzweifelt nach Käufern für Elektroautos sucht und jedes Argument brauchen kann?

E wie en Marche

Gibt es ihn, den „guten Populismus“? Emmanuel Macron hat mit seiner aus dem Nichts entstandenen Bewegung „en Marche“ handstreichartig die Altparteien des Landes und ihr Spitzenpersonal abgeräumt. Und es gab anscheinend nicht mal einen Kater nach dem Triumph, obwohl doch eine solche Zusammenballung disruptiver Energie zwangsläufig irgendwann Gegenreaktionen auslösen müsste. Ob zum Beispiel die französischen Gewerkschaften noch die Kraft zum Widerstand gegen allerhand Zumutungen finden?

Macron aber tut unbeirrbar und ehrgeizig genau das, was er seinen Wählern vor der Wahl versprochen hatte, als Profiteur eines gigantischen Sieges, der ihm die lähmenden Fesseln einer Regierungskoalition erspart. Und er inspiriert anders gestrickte Nachahmer wie Sebastian Kurz und Christian Lindner. Sein optimistischer Überschwang in Sachen Europa fand aber bisher nur wenig Resonanz: Angela Merkel, die wohl als Unterstützerin eingeplant war, neigt aktuell eher nicht dazu, ihren euroskeptischen Untertanen auch noch einen europäischen Finanzminister anzudienen.

F wie Fake News

Schätzungsweise jeder Deutsche zwischen 10 und 99 hat das Gefühl, dass gedruckten und gesendeten Nachrichten nicht mehr zu trauen ist. Darin steckt ein wenig böse Erfahrung und viel Verschwörungstheorie, und bei näherem Hinsehen liegt der Kern des Vorwurfs an die etablierten Medien wohl weniger darin, dass sie falsche Meldungen verbreiten, sondern darin, dass sie richtige unterdrücken, und zwar speziell beim Thema Migration. Es hat allerhand Selbstkritik gegeben deshalb, und die Filterblase wirkt inzwischen sehr löchrig.

Die anderen „Fake News“ sind die oft prinzipiell strafbaren Behauptungen in den sozialen Netzwerken, denen Justizminister Heiko Maas das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ entgegenstellt. Seit 1. Oktober sind die Betreiber verpflichtet, „offensichtlich strafbare Inhalte“ binnen 24 Stunden zu entfernen. Bei einer Anhörung im Bundestag hielten fast alle Experten den Entwurf wegen dieser unklaren Definition für verfassungswidrig, und der UN-Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit kritisierte, das Gesetz verstoße gegen die Menschenrechte. Maas so: Mir doch egal.

G wie Glyphosat

Klingt schon gefährlich, ist (politisch) noch gefährlicher. Der Dreisatz Gentechnik – Monsanto – Glyphosat brachte eine gewaltige weltweite Kampagne gegen die weitere EU-Zulassung in Fahrt, der allerdings in Deutschland durch die finale Unbotmäßigkeit des CSU-Landwirtschaftsministers Christian Schmidt die Pointe abhandenkam.

Andreas Hensel, Chef des Deutschen Instituts für Risikobewertung, sagte im Tagesspiegel-Interview, was Stand der Wissenschaft ist: Glyphosat ist ein nach allen Seiten ausführlich untersuchtes Herbizid, das bei sachgemäßem Gebrauch keine Gefahr für Mensch, Flora und Fauna darstellt. Weltweit nennt allein das IARC, die Krebsforschungsagentur der WHO, den Stoff „potenziell krebserregend“ – in einem Atemzug mit Wurst, Schinken und Alkohol, und gestützt auf eine Studie, deren Ko-Autor Sammelkläger gegen Monsanto berät.

In der Debatte entscheidend zu kurz gekommen ist bisher allerdings die Frage, wodurch das Mittel denn ersetzt werden soll, um die Ernten zu sichern. Zur Wahl stehen intensives Unkrautjäten sowie die Mittel des Biolandbaus, deren Nebenwirkungen im Zweifel weniger gut untersucht sind.

H wie Hygge

Wenn es ein Land auf die Reihe bekommt, seinen Staatsbürgern ein wohliges Lebensgefühl zu vermitteln, dann ist es Dänemark, der Weltspitzenreiter in Sachen gefühlter Lebensqualität. Schlechtes Wetter, hohe Steuern und nationalistische Ausfälle in Regierung und Parlament ändern nichts daran, dass auf den flachen Sandböden zwischen Wattenmeer und Großem Belt eine unkaputtbare Konsensgesellschaft gewachsen ist, die in ihrer allumfassenden Zufriedenheit und Wohlhabenheit der Schweiz ähnelt, nur eben weltoffener und mit sehr viel mehr Fahrradverkehr.

Ursachenforscher stießen dabei im vergangenen Jahr immer wieder auf das Phänomen „Hygge“, das mit „Gemütlichkeit“ nur sehr unzureichend übersetzt wird, weil es das Prinzip des selbst gehäkelten Bällebads auf praktisch alle Lebensbereiche und Altersgruppen ausdehnt. Eine allgemeine Erklärung lautet, man müsse dafür die kleinen Dinge im Leben genauso wichtig nehmen wie die großen – sie stammt allerdings nicht aus Dänemark, sondern von der Website des deutschen Magazins „Hygge“, mit dem das Haus Gruner + Jahr neue deutsche Landlust im Zeitschriftenhandel entfachen möchte.

I wie IS

Das Ende der mörderischen Islamisten und ihres Kalifats wurde systematisch herbeigebombt. Und es wird auf der Welt außerhalb der Kreise fanatischer Islamisten kaum jemanden geben, der nicht erleichtert war über die – enorm blutige – Rückeroberung großer Städte wie Aleppo. Rakka, die letzte Hochburg des „Islamischen Staats“, wurde im Oktober vom kurdisch-arabischen, von den USA unterstützten Militärbündnis „Syrische Demokratische Kräfte“ (SDF) nach drei Jahren befreit.

Der eigentliche Sieger ist aber Syriens Präsident Baschar al Assad, der von Wladimir Putin in Sotschi im November zur heiteren Kriegsnachlese empfangen wurde. Die Russen wollen nun aber nicht nur geostrategisch, sondern auch finanziell massiv profitieren, nämlich vom Wiederaufbau. Ob die Niederlage für Europa eine durchweg gute Nachricht ist, bleibt offen. Denn beides ist möglich: Dass die IS-Kämpfer ihre Rache nun in einzelnen Terroranschlägen weltweit ausleben. Oder dass sie, logistisch geschwächt, keine Lust mehr auf neues Morden haben. Speziell die von ihnen jahrelang terrorisierten Länder Syrien und Irak können kaum darauf vertrauen, dass der Spuk vorbei ist.

J wie Jamaika-Aus.
J wie Jamaika-Aus.

© dpa

J wie Jamaika-Aus

Das offizielle Wort des Jahres der Gesellschaft für deutsche Sprache. Es steht vor allem für das Entsetzen der zahllosen Schwarz-Grün-Anhänger quer durchs Land, die für ihr Lieblingsprojekt das bisschen FDP notfalls in Kauf genommen hätten, und es steht für das Ende eines Verhandlungsmarathons, den jeder Teilnehmer vom wundersam auferstandenen grünen Fundi Jürgen Trittin bis zum Bayerngranden Horst Seehofer irgendwie komplett anders erlebt haben will.

Allerdings schwant nun auch jenen, die eine derart komplexe Koalition mit völlig gegensätzlichen Gesellschaftsentwürfen generell fragwürdig fanden, was die Alternative ist: die Fortsetzung der Groko unter den wahlbeschädigten Vorsitzenden Angela Merkel und Martin Schulz, die kaum beliebter ist als Neuwahlen. Und für die FDP um Christian Lindner, ihrem Ersten unter Ungleichen („Besser nicht regieren als falsch regieren“), wird es nun schwer, sich in der rechten Ecke des Bundestags oppositionell einigermaßen glaubhaft gegen die AfD abzugrenzen.

K wie Koko

Folge des Jamaika-Aus: Das Kürzel steht für „Kooperations-Koalition“, eine Idee der SPD-Linken, die es der Partei ermöglichen soll, zu regieren, wo es passt, und an anderer Stelle eine Art Opposition gegen die Regierung zu betreiben – eine Art politische Pelzwaschanlage also, die von der CDU/CSU sogleich als Zumutung abgetan wurde; Horst Seehofer fühlte sich an eine „Krabbelgruppe“ erinnert. Immerhin deuten derlei Gedankenspiele unabhängig von ihrem Realitätsbezug darauf hin, dass die Bundestagswahl mit ihren Folgen eine Debatte in Gang gesetzt hat, die auf mittlere Sicht die Verkrustungen der Groko-Zeit mit ihren Wirkungen über die gesamte Parteienlandschaft aufbrechen und Frischluft ins System blasen könnte.

Horst Seehofer war der Erste, der von der Dynamik der Entwicklung aus der Kurve getragen wurde, und er wird nicht der Letzte sein. „Koko“, genauer: „Kommerzielle Koordination“, war übrigens bis 1989 Erich Honeckers Devisenquelle, gesteuert von Alexander Schalck-Golodkowski. Wohl schon vergessen?

L wie Luther

Das große Jahr des Religionsstifters wurde nach allen Regeln der Veranstaltungskunst gefeiert, hat aber allem Anschein nach wenig Spuren hinterlassen in der gesellschaftlichen Gemengelage. Die intellektuelle und theologische Bilanz fiel unterschiedlich aus, je nachdem, ob man Veranstalter oder Beobachter fragte. Das Jubiläum wirkte wie ein in die Länge gezogener evangelischer Kirchentag, dem aber am großen Ende sichtbar die Resonanz fehlte. Alles zusammen kostete eine halbe Milliarde Euro, aber die direkten Besucherzahlen blieben meist weit unter Plan, wenngleich Sachsen-Anhalt und Thüringen generell mehr Touristen anzogen.

Über den Urheber der Reformation wissen wir seitdem aus zahlreichen Monografien mehr als vorher, aber sein Bild schillert weiter, vor allem, was seine antisemitischen Ausfälle angeht. Mag sein, dass das damals so üblich war im Hl. Römischen Reich, aber dennoch war ja kein Christenmensch gezwungen, dieser Sitte zu folgen. Was bleibt? Auf jeden Fall viele kleine Plastik- Reformatoren, von denen Playmobil mehr als eine Million verkauft hat.

M wie metoo

Vorverurteilungen ohne Ermittlungen und Anklage hat es in dieser Affäre zu viele gegeben, aber im Fall des Hollywood-Moguls Harvey Weinstein selbst ist die Indizienlage mehr als erdrückend: Er hat seine Macht für sexuelle Übergriffe übelster Art ausgenutzt und zahllose Frauen traumatisiert. Sie und viele andere verwendeten nun den Hashtag #metoo, „ich auch“, um eigene Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu bringen.

Die deutsche Sexismus-Debatte #aufschrei, die 2013 von einem Bericht über einen Spruch Rainer Brüderles angestoßen worden war, wiederholte sich auf internationaler Bühne. Zahlreiche Karrieren wurden beendet, zahlreiche Talkshows reflektierten die zwischen den Extremen „Endlich!“ und „Hexenjagd!“ polarisierte öffentliche Meinung.

Erste Folge: Schweden wird die Rechtslage dahingehend präzisieren, dass jede sexuelle Handlung, die nicht im gegenseitigen Einvernehmen geschieht, strafbar ist – es droht dann ein Urteil wegen Vergewaltigung. Dieses Einvernehmen solle, wie nachträglich klargestellt wurde, mündlich erfolgen; Juristen raten dennoch zur Schriftform. Vorschlag zur Güte: Eine Handy-App („Du darfst“) könnte erotische Annäherungen per Bluetooth-Kopplung rechtssicher gestalten.

N wie Nordkorea

Feuer und Zorn, im Originaltext „Fire and Fury“ – das ist es, was Donald Trump dem isolierten asiatischen Land im August androhte. Der große Vereinfacher im höchsten Amt kann offenbar nur schwer zwischen der realen Welt und Hollywood unterscheiden, aber in diesem Fall trifft er zweifellos, was auch nahezu alle anderen Staatschefs dem unberechenbaren Diktator Kim Jong Un an den Hals wünschen. Nordkorea, die letzte Bastion des Steinzeitkommunismus, hat sich mit dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten noch tiefer in seiner nuklearen Wagenburg verschanzt und lässt die Experten rätseln, ob seine störanfälligen Raketen nun immer noch nur ein großer Bluff sind oder doch verheerenden Schaden über Tausende von Kilometer anrichten können. Entsprechende Drohungen von Kim Jong Un, den Trump leicht verniedlichend „Rocket Man“ nennt, werden in aller Regel mit gemeinsamen Manövern von USA und Südkorea beantwortet. Dies legt die Einschätzung nahe, dass Korea die gegenwärtig gefährlichste Ecke der Welt ist.

O wie Obergrenze

Ein Unding, juristisch gesehen – aber es beschäftigte die von der Migrationskrise geschüttelte Koalition und speziell die CDU/CSU über Monate. Das Asylrecht kennt eine solche Grenze nicht, und es ist gegenwärtig deshalb nicht möglich, irgendwann die Zugbrücken speziell für Asylbewerber mit dem Argument hochzuziehen, nun seien genug im Land. Das war auch die Position der Kanzlerin. Dennoch bestand vor allem Horst Seehofer, der wohl ahnte, was seiner Partei in Bayern drohte, auf einer Grenze von 200.000 Flüchtlingen jährlich, die zwischendurch auch in die wunderschöne Idee des „atmenden Deckels“ verkleidet wurde, eine Obergrenze mit flexiblen Interpretationsmöglichkeiten und allerhand Seiten- und Hintertüren.

Schließlich rauften sich die Schwesterparteien zu einem Formelkompromiss zusammen, der einerseits die Zahl 200.000 enthielt, andererseits aber die Möglichkeit, sie auch zu verändern, nach oben, unten, links und rechts. Und für Asylbewerber soll sie ohnehin nicht gelten. Dass diese Null-Aussage die Koalitionsverhandlungen mit der SPD überlebt, ist indessen nicht sehr wahrscheinlich. Ende 2017 waren die Flüchtlingszahlen auch so weit gesunken, dass die ganze Debatte recht theoretisch wirkte.

P wie Paradise Papers

In der Welt der Steuerparadiese ist es immer schön warm, und der Weg von der Briefkastenfirma bis zum Yachthafen nur ein Katzensprung. Deshalb war es wohl naheliegend, die aktuellen Enthüllungen über internationale Steuervermeider, 13,7 Millionen Dokumente der auf Offshore-Geschäfte spezialisierten und weltweit tätigen Anwaltskanzlei Appleby, auch gleich mit diesem Etikett zu versehen. Anders als bei früheren Veröffentlichungen wurden allerdings diesmal trotz – wie üblich – aufgeregter Verkündigung kaum Anhaltspunkte für illegales Handeln sichtbar; das Konvolut zeigte aber doch in gesteigerter Deutlichkeit, wie die Reichen ihr Geld systematisch um den Globus verschieben, um noch reicher zu werden.

Erwähnt wurden beispielsweise das britische Königshaus und US-Handelsminister Wilbur Ross. Kollateralschaden: Auch Bono von U2, steinreicher Weltwohltäter, flog als souveräner Steuerjongleur auf. Herzergreifende Reaktion: Er sei „verzweifelt“, dass solche Dinge mit seinem Namen in Verbindung gebracht würden.

Q wie Querfront

In der Weimarer Zeit waren ganz Rechte und ganz Linke sehr erfolgreich damit, Nationalismus und Sozialismus zu vereinen, um den wankenden demokratischen Staat einvernehmlich in die Tonne zu treten. Das hieß damals „Querfront“. Die aktuelle Karriere des Begriffs ist komplizierter. Wikipedia? „Die Extremismusforschung erklärt solche Bündnisse auch aus übereinstimmenden autoritären Dispositionen, kollektivistischen Freund-Feind-Konstruktionen und verschwörungstheoretischen antisemitischen Welterklärungen bei rechts- und linksgerichteten Bevölkerungsteilen.“

Wenn also jetzt vermeintlich Linke wie Diether Dehm und Wolfgang Gehrcke sich für eine Veranstaltung des rechten Verschwörungstheoretikers Ken Jebsen einsetzen, dann ist das nicht absurdes Theater, sondern typisch Querfront. Die sog. „israelkritische“ Haltung ist ein weiterer wichtiger Baustein querfrontaler Bündnisse. Das Phänomen reicht noch weiter, aber es gibt weiterhin kleine Unterschiede: Sigmar Gabriel wurde bei Pegida mit dem Galgen bedroht, bei Anti-TTIP dagegen mit einer blutigen Guillotine.

R wie Reichsbürger

Viele Millionen Menschen glauben Unfug – dass Elvis lebt, die Erde eine Scheibe ist und der Mond aus grünem Käse. Sie alle frönen ihrem Hobby, ohne dem Staat in die Quere zu kommen. Anders ist das bei den „Reichsbürgern“, die mit allerhand irren Begründungen darlegen, dass das Kaiserreich noch bestehe und damit sämtliche deutschen Behörden ohne Rechtsgrundlage tätig seien. Es liegt auf der Hand, dass diese Idee vor allem von Rechtsradikalen, Waffennarren und anderen Wirrköpfen geschätzt wird, die gern noch ganz viel mehr persönliche Freiheit ohne die doofe Polizei hätten.

Der 50-jährige „Reichsbürger von Georgsgmünd“, der einen Polizisten erschossen hatte, wurde wegen Mordes im Oktober zu lebenslanger Haft verurteilt. Glück gehabt: Im Kaiserreich, gälte es noch, wäre er ohne Umschweife zum Tode verurteilt worden. Die „Identitären“, die manchmal wie die Jugendorganisation der Reichsbürger wirken, berufen sich aber auf eine andere Zwangsvorstellung. Nämlich, dass es eine europäische Kultur gebe, die gegen Attacken anderer – islamischer – Rassen gewaltsam verteidigt werden müsse.

S wie Schmetterlinge

Wofür stehen die Grünen nach dem Ende der Jamaika-Regierungshoffnungen? „Wir wollen“, sagte Katrin Göring-Eckardt beim gemeinsamen Wundenlecken auf dem Parteitag danach, „dass in diesen vier Jahren jede Biene und jeder Schmetterling und jeder Vogel in diesem Land weiß: Wir werden uns weiter für sie einsetzen!“ Der Satz soll im Saal als kerngrünes Credo verstanden worden und auf große Zustimmung gestoßen sein, wurde aber in späteren Kommentaren und speziell in den Sozialen Medien unter einer Lawine von Hohn und Spott begraben.

Sicher ist, dass Göring-Eckardt damit ein echt geflügeltes Wort gelungen ist, an dem sich die Grünen in späteren Jahren messen lassen müssen, zumal es den Bienen, Schmetterlingen und Vögeln eher schlechter geht, seit die Partei damit begonnen hat, ihre Positionen in der deutschen Politik zu etablieren. Von Anne Will wurde die Obergrüne ein paar Tage später mit dem Titel „Ansprechpartner für Bienen und Schmetterlinge“ begrüßt, was sie selbst „nicht lustig“ nannte. Möglicherweise finden also auch Wesen ohne Flügel noch Gehör vor den Schranken des Grünen Gerichts.

T wie Terror

Istanbul, 1. Januar: Bombe im Nachtclub, 39 Tote, 70 Verletzte. Quebec, 29. Januar: Bewaffnete in islamischem Kulturzentrum, sechs Tote, 17 Verletzte. London, 22. März: Westminster Bridge, fünf Tote, 20 Verletzte. St. Petersburg, 3. April: Selbstmordanschlag mit Bombe in der Metro, 14 Tote, 50 Verletzte. 7. April, Stockholm: Lastwagen, vier Tote, 15 Verletzte. 22. Mai, Manchester: Bombenanschlag auf Popkonzert, 22 Tote, 116 Verletzte. 3. Juni, London: Lieferwagen London Bridge, dann Messerattacken Borough Market, acht Tote, rund 50 Verletzte. 14. Juli, Hurghada, Ägypten: Messerattacke, zwei Tote, vier Verletzte. 20. Juli, Brüssel: Ein Angreifer mit Sprengstoff wird erschossen, keine weiteren Opfer. 28. Juli, Hamburg: Messerattacke, ein Toter, sieben Verletzte. 18. August, Turku: Messerattacke, zwei Tote, sechs Verletzte. 17. August, Ramblas, Barcelona: Lieferwagen, 13 Tote, 120 Verletzte. Dazu Hunderte von Toten bei Anschlägen in Syrien, Afghanistan etc., alles im Namen Allahs. Ausnahme ohne religiöses Motiv: In Las Vegas erschießt Stephen Paddock, 64, am 1. Oktober 59 Menschen und verletzt rund 500.

U wie Überwachung

Flächendeckende Videoüberwachung – so einer der allgemeinsten Allgemeinplätze in der Debatte – ist „kein Allheilmittel“. Das allerdings behauptet auch niemand, und so versucht Deutschland mit zunehmender Intensität, einen Weg zu finden, der die Verbrechensbekämpfung erleichtert, ohne Grundrechte unverhältnismäßig zu beschädigen. In Berlin wird der rot-rot-grüne Senat, der eine deutliche Ausweitung ablehnt, von einer Mehr-Video-Bürgerinitiative unter Druck gesetzt, die vom ehemaligen CDU-Justizsenator Thomas Heilmann und dem populären SPD- Pensionär Heinz Buschkowsky angeführt wird.

Am Berliner Bahnhof Südkreuz läuft gegenwärtig auch ein von Innenminister Thomas de Maizière massiv geförderter Versuch zur Gesichtserkennung mit 300 Freiwilligen, und in Berlin wurden mit Videobildern zuletzt zahlreiche Gewaltattacken in U-und S-Bahn aufgeklärt. So etwas erhoffen sich die Sicherheitsbehörden nun auch von der Öffentlichkeitsfahndung mit Bildern von Randalierern des G-20-Gipfels in Hamburg, doch gerade dieser Schritt ist juristisch höchst umstritten.

V wie Videobeweis

Die unpolitische Seite der Videoüberwachung – allerdings nicht weniger umkämpft. Denn 2017 war das Jahr, in dem vermeintlich objektive Bilder erstmals das subjektive Walten des Schiedsrichters und seiner Leute in der Fußball-Bundesliga zu kontrollieren versprachen. Ein vierter Offizieller, der Videoassistent, kann gegebenenfalls per Funk mit dem Chef draußen Kontakt aufnehmen und dessen Entscheidungen korrigieren.

Die Erfahrungen liefen auf eine einfache Erkenntnis hinaus: Was sich objektiv feststellen lässt – Torlinie überschritten? –, gewinnt durch den Videobeweis an Genauigkeit. Komplizierte Probleme – Foul oder nicht Foul? – liegen auch weiterhin im Auge des Betrachters. Zumal die Fankurve weiterhin auf ihrer subjektiven Wahrheit gegen jeglichen Beweis beharrt. Wie hoch ist die Eindeutigkeit der Bilder? Schalkes Trainer Domenico Tedesco fand eine einfache Analogie: „Das ist im Grunde wie beim Deutschaufsatz, nicht wie bei Mathe.“

W wie Willy Brandt

Taufpate eines Großflughafens im südlichen Brandenburg vor den Toren Berlins, der einfach nicht fertig werden will und, falls doch, nach aktuellem Stand neun Jahre zu spät – das kann sich aber noch ändern. Die Wartezeit animierte interessierte Kreise zu Narreteien wie der „Tegelretter“-Kampagne, die die Berliner FDP unter Sebastian Czaja wieder ins Abgeordnetenhaus brachte. Erwartungsgemäß standen die Befürworter, die den Volksentscheid knapp für sich entscheiden konnten, hinterher vor unveränderten Fakten: Weder Brandenburg noch der Bund denken daran, an der von allen Seiten beschlossenen Rechtslage zu rütteln.

Dass es gleich nach der Wahl im Oktober so ruhig wurde um die Kampagne, hat sicher auch damit zu tun, dass bis zur BER-Eröffnung, schätzungsweise 2021, sowieso niemand die Absicht hat, Tegel zu schließen. Dort wurde es nach der Pleite von Air Berlin auch erst einmal ruhiger, sieht man davon ab, dass die Lufthansa die Nachfrage vorübergehend mit röhrenden Jumbos zu befriedigen versuchte.

X wie Xavier

Harmloser Name, furchtbare Wirkung: Der Sturm vom 4. bis 6. Oktober fegte nicht nur die deutschen Baumbestände mit zerstörerischer Wucht durch, sondern tötete auch sieben Menschen, darunter in Berlin die Journalistin Sylke Tempel. Gut drei Wochen später legte „Herwart“ noch einmal nach – das dramatische Ende eines wettermäßig völlig verrutschten Jahres mit einem stellenweise total verregneten Sommer. Das Tief „Rasmund“ brachte Ende Juni eine Art anhaltenden Monsunregen, der in Berlin zahllose Keller und U-Bahnhöfe flutete. In Tegel fielen in 24 Stunden 197 Liter pro Quadratmeter, doppelt so viel wie sonst im ganzen Juni.

Anfang August folgte ein weiterer Starkregen, der diesmal eher den Süden der Stadt betraf. Und „Xavier“ machte dann richtig ernst; die Feuerwehr zählte mehr als 3000 Einsätze in 70 Stunden, umgefallene Bäume brachten in Teilen der Stadt den Verkehr weitgehend zum Erliegen, sowohl auf den Straßen als auch auf den Gleisen. Und viele Hausbesitzer lernten, dass das Stichwort „Elementarschaden“ in der Gebäudeversicherung nicht nur in klassischen Katastrophenregionen Sinn macht.

Y wie Yücel, Deniz

Der deutsch-türkische Journalist und „Welt“-Korrespondent sitzt seit 27. Februar als angeblicher Terroristen-Unterstützer in türkischer Haft und symbolisiert damit unfreiwillig den Zustand der Pressefreiheit unter Recep Tayyip Erdogan. Schurkenstaaten herkömmlicher Prägung legen normalerweise kurz nach der Festnahme irgendetwas vor, was zumindest formal nach einer Anklage aussieht – hier passiert nicht einmal das. Was bedeutet, dass es sich allein um eine erpresserische Geiselnahme mit dem Ziel handelt, Deutschland unter Druck zu setzen. Vermutlich geht es um Militärs oder Geheimdienstler, die sich vor der Gülen-Hexenjagd nach Deutschland abgesetzt haben und hier um Asyl nachsuchen.

Hinter den Kulissen läuft vermutlich hektische Geheimdiplomatie. Das zeigte sich am Fall des ebenfalls in der Türkei inhaftierten Berliner Menschenrechtlers Peter Steudtner, der offenbar von Gerhard Schröder persönlich herausgehauen wurde – der Altkanzler hat immer noch einen Schlag bei den Despoten der Welt, das scheint hier mal genützt zu haben.

Z wie Zug

Er dampfte eine Weile vor sich hin, bis ihm der Treibstoff ausging: der Schulz-Zug. „Ich habe von Anfang an vor dem Schulz-Hype gewarnt“, sagte Martin Schulz, „ich kann aber nicht ausschließen, dass ich mich davon selber habe beeindrucken lassen.“ Nur deshalb konnte der Schulz-Zug Fahrt aufnehmen, der zunächst nur ein inoffizielles Video-Spiel mit der Möglichkeit war, politische Gegner wie Frauke Petry über den Haufen zu fahren, Ergebnis eines „Hackathons“ in der SPD-Zentrale. Anfang März erfunden, dann als Symbol der SPD-Kampagne ins Rollen geraten – und spätestens Ende Juni endgültig zum Stehen gekommen, als der Hundert-Prozent-Kandidat entzaubert war.

Dann stand der so dynamisch gestartete Zug nur noch für Stillstand und lieferte Stoff für allerhand Sprachspiele mit Prellbock, roten Signalen und finaler Entgleisung. Rechtzeitig abgesprungen, so analysierten Wahlforscher hinterher, waren vor allem Wechselwähler, Frauen und Landbewohner. Hashtag #gottkanzler allerdings war keine SPD-Idee, sondern wurde von externen Spöttern sogleich nach der 100-Prozent-Nominierung erfunden.

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