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Stand der deutschen Einheit: Der Osten holt auf - langsam

Seit 23 Jahren rennt der Osten dem Westen hinterher. Er ist näher gekommen, aber noch ist viel zu tun. Wo stehen die jungen Bundesländer heute?

Von Antje Sirleschtov

23 Jahre lang müht sich Deutschland nun schon, dass im Osten des Landes, zwischen Rügen und Thüringer Wald, das erreicht wird, was im Grundgesetz pauschal mit „gleichwertige Lebensverhältnisse“ beschrieben ist und ganz praktisch bedeutet: leben wie im Westen. Und noch immer ist das Ziel nicht erreicht. Mindestens noch mal 100 Jahre wird es dauern, sagen die einen. „Es ist schon viel geschafft“, sagt Christoph Bergner, CDU-Politiker und seit 2011 Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Länder, angesiedelt im Bundesinnenministerium. Wer durch Sachsen, Thüringen oder Mecklenburg fährt und noch Erinnerungen an Bilder aus den frühen neunziger Jahren hat, kann ihn mittlerweile fast überall mit Händen greifen, den Aufbau Ost. Und meistens sogar nachvollziehen, was Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) am Mittwoch bei der Vorstellung des alljährlichen Fortschrittsberichts „Deutsche Einheit“ sagte: Die neuen Bundesländer „blühen sichtbar – selbst im Winter“. Die Wirtschaft wächst, der Wohlstand steigt, die Lebenserwartung erhöht sich und die Abwanderung sinkt drastisch. Dennoch ist auch 23 Jahre nach der deutschen Einigung das Bild differenziert.

Wo lebt es sich im Osten am besten?

Die Antwort auf diese Frage muss naturgemäß sehr unterschiedlich ausfallen. Wer gern in gut sanierten und funktionierenden Innenstädten mit historischem Charme wohnt, wird sich in Dresden, Leipzig, aber auch in Weimar oder Schwerin wohlfühlen. Milliardenbeträge wurden hier in den zurückliegenden Jahren in Wohnungsbau, Stadtentwicklung und Infrastruktur investiert. Und dennoch: Hochgeschwindigkeitsnetze, Datenautobahnen also, sind flächendeckend im Osten unter dem Niveau der alten Bundesländer ausgebaut. Lediglich Berlin kann mithalten. Aber schon jenseits der Stadtgrenze wird es dunkel. In Brandenburg und Sachsen-Anhalt ist der Ausbaugrad der Datennetze zum Teil nur ein Viertel so gut wie etwa in Baden-Württemberg.

Wem die Nähe zu wissenschaftlichen Einrichtungen wichtig ist, der wird Jena oder Rostock und Greifswald schätzen. All die genannten Städte sind nebenbei auch die Zentren besonderer wirtschaftlicher Prosperität. Dennoch: Im Osten wird weniger als im Westen in Forschung und Entwicklung investiert und auch davon trägt die Hauptlast der Staat mit Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen. Erbe der Deindustrialisierung nach dem DDR-Zusammenbruch: Kein einziger deutscher Großkonzern hat seinen Sitz im Osten, und die kleinen Betriebe sind noch zu klein, um wirkliche Innovationsinvestitionen bezahlen zu können. Rechnet man Berlin heraus, das im Vergleich zu den Ost-Flächenländern sogar noch als wirtschaftsstark gilt, beträgt die Wirtschaftskraft des Ostens 71 Prozent des durchschnittlichen Westniveaus – und zwar ohne große Unterschiede der jungen Bundesländer.

Die gute Nachricht: Weil in Infrastruktur und Tourismus vergleichsweise viel investiert wurde, leben zum Beispiel die Regionen um die Müritz, an der Ostsee und Teile des Thüringer Waldes mittlerweile gut von Gästen und Urlaubern.

Wo ist der Osten vorn?

Es gibt natürlich nur einige ausgewählte Bereiche, in denen Ostdeutschland dem Westen mittlerweile den Rang abgelaufen hat. Und auch das sagt noch nichts darüber aus, wie es den Ostländern gelingt, diese Vorteile für sich in Zukunft zu nutzen. Zum Beispiel bei der Energiewende: Rund 29 Prozent des im Osten erzeugten Stroms kommt aus erneuerbaren Energien, im Westen sind es nur 20 Prozent. Außerdem gibt es keine weitere Belastung durch die Stilllegung von Kernkraftwerken. Der Osten, heißt es im Bericht der Regierung, sei „Energieland“.

Wer gute Kinderbetreuung sucht, wird im Osten beinahe überall fündig. Knapp die Hälfte aller ostdeutschen Kinder unter drei Jahren wird in Kitas betreut, im Westen sind es nur halb so viel.

Und auch im Bildungsbereich kann der Osten punkten. Zwar gibt es nirgendwo sonst in Deutschland so viele Schulabgänger ohne Abschluss wie in Mecklenburg- Vorpommern. Aber alle anderen Ost-Bundesländer liegen im Bildungsvergleich auf den vordersten Plätzen in ganz Deutschland. Zusammengenommen mit der hohen Erwerbsneigung von Frauen im Osten könnte das gute Bildungsniveau eine aussichtsreiche Startposition sein, wenn in ganz Deutschland in den kommenden Jahren aus demografischen Gründen Fachkräfte gesucht werden und Unternehmen in neue Standorte dort investieren, wo es ausreichend gut ausgebildete Menschen gibt. Beachtenswert für dieses Potenzial: Erstmals seit der Wiedervereinigung ziehen weniger Ostdeutsche aus ihrer Heimat fort als von außerhalb hinzuziehen.

Wo liegt der Osten hinten?

Ganz klar: bei der Arbeitslosigkeit und damit bei den Einkommen der Menschen. Zwar sind im Schnitt im Osten nicht mehr 20, sondern „nur“ noch rund zehn Prozent der Menschen ohne Arbeit. In Baden-Württemberg aber werden, zum Vergleich, Arbeitskräfte gesucht. Das verdeutlicht, wie groß der Unterschied ist. Und wer Arbeit hat, verdient im Schnitt nur 80 Prozent dessen, was er im Westen verdienen könnte. Das Durchschnittseinkommen liegt bei 2390 Euro im Monat – brutto. Lediglich Angestellte in der öffentlichen Verwaltung und Lehrer sind mit 95 Prozent beinahe auf Westniveau angekommen. Ein großes Problem ist die Bevölkerungsstruktur: Der Osten altert rasant. Schneller als im Westen der Bundesrepublik, der ebenfalls vor dem demografischen Wandel steht, geht der Alterungsprozess in den östlichen Bundesländern voran. Der Altenquotient, der das Verhältnis der nicht mehr Erwerbstätigen zur jüngeren Bevölkerung beschreibt, ist laut Bericht von 2000 bis 2012 von 27 auf 38 Prozent gestiegen. 2030, so schätzen die Autoren des Berichts, wird er bei 68 liegen, im Westen dagegen bei 51. Die Geburtenrate, die sich im Osten zwar wieder erhöht hat, kann das nicht ausgleichen.

Wo gibt es die größten Veränderungen?

Noch kann man das Ausmaß nicht wirklich erkennen. Aber in einigen Jahren wird deutlich sichtbar sein, dass der Osten die größten demografischen Lasten zu tragen hat. Die Menschen ziehen in Städte, ganze Landstriche veröden und verlieren ihre Bevölkerung. Was auf den ersten Blick wie eine Katastrophe aussieht, muss aber trotzdem kein Nachteil sein. Denn nirgendwo sonst in Deutschland befassen sich Regionalforscher, Politiker und gesellschaftliche Gruppen mit den Folgen dieser Entwicklung so intensiv wie in Ostdeutschland. Sie sehen Chancen für Natur, Tourismus und entwickeln Modellprojekte für das Leben im Alter. Ihre Hoffnung: Wenn der Westen Deutschlands irgendwann die Auswirkungen der demografischen Entwicklung hin zu mehr Älteren erkennt, wird er im Osten in die Lehre gehen.

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