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Politik: Töne und Misstöne

Drinnen beklagt Rau die Art der Debatte über das Vertreibungszentrum – draußen dröhnt derweil der Protest

Man hatte nicht versäumt, darauf hinzuweisen, dass Freizeitkleidung nicht angebracht sei. Es handle sich um einen Festakt. Die meisten Menschen, die am Samstag in die Komische Oper gekommen sind, sind ohnehin in einem Alter, das nicht mehr unterscheidet zwischen Freizeitkleidung und Alltagskleidung. Weil der Alltag längst Freizeit ist. Weil die Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs auch immer älter werden.

Der diesjährige „Tag der Heimat“ wird in Berlin begangen. Heimat zunächst einmal geografisch verstanden. Der Bund der Vertriebenen hat eingeladen, verleiht Erwin Teufel, dem Landesschef Baden-Württembergs, eine Ehrenplakette, und Innenminister Otto Schily sitzt im Parkett. Wenn das kein Signal ist. So wie alles ein Signal ist in dieser Debatte. Hierzu muss man wissen, dass der Bund der Vertriebenen gerne schon mal polarisiert. Und nun auch ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin einrichten will. Einige sagen, hier machten sich Täter zu Opfern. Das Zentrum gehöre ohnehin woanders hin.

Als Bundespräsident Johannes Rau Anlauf nimmt zur Festrede, erhebt sich ein Mann vom roten Samtpolster. „Ich wollte Sie daran erinnern, dass …“, ruft er in den Saal. Die Menschen neben ihm stehen auf. Hinaus soll der Störer, noch bevor sein Anliegen klar wird. Rau reagiert nicht auf diesen Zwischenruf, anders als Roman Herzog, der hatte sich 1996 den Zwischenruf „Vaterlandsverräter“ scharf verbeten. Es passiert immer wieder in diesen Veranstaltungen, wo die Schicksale von Einzelnen verwoben sind mit den großen Verschiebungen und Verbrechen der Geschichte. Wo jede Äußerung deshalb aufgeladen ist, weil sie zugleich als Teil für ein Ganzes steht. Der Bundespräsident jedenfalls, so sagte er in seiner Rede, sei „bedrückt“ über den Ton, der in dieser Debatte von den Fronten angeschlagen werde. Es sei das erste Gebot, „alles zu unterlassen, was den Streit in Deutschland weiter anheizt.“

Als hätte sie Raus Worte vorausgeahnt, hatte die Verbandspräsidentin Erika Steinbach aus ihrem Redemanuskript alle jene Stellen gestrichen, die sich im Ton vergriffen, die die Fronten verhärten könnten. Warum? Weil die Bundesregierung mit Schily in der ersten Reihe saß? Den Satz „Über deren Haltung mache ich mir allerdings keine Illusionen“ spricht sie nicht aus. Verschwunden auch der Hieb gegen Außenminister Joschka Fischer. Das Zentrum gegen Vertreibungen müsse nach Berlin, hatte Steinbach gesagt. Und „europäisch“ hätten sie ihr Zentrum nur deshalb nicht genannt, weil sie ja später auch noch die außereuropäischen Schicksale mit aufgenommen wissen will. Nicht etwa, weil es nur der Vertreibungen von Deutschen gedenken soll, wie man es den Initiatoren vorgeworfen hatte.

Zwischen den Reden spielen Bläser. Und die Redner haben eines gemeinsam: Sie nutzen Einzelschicksale, um das Ganze zu zeigen. Steinbach erspart ihren Zuhörern den Erlebnisbericht einer Vergewaltigung nicht. Rau beginnt auch mit einem Einzelschicksal. In diese gepufferte Theaterkapsel voller Erinnerung dringt nichts von dem Lärm vor dem Haus. Nichts von dort, wo das andere Lager sitzt. Unter den Linden hocken sie auf dem Teer – wenige, aber laut. Über den Ton des harten, schwarz gekleideten Kerns der polizeibekannten Demonstranten hätte sich der Bundespräsident sehr erschrocken. „Deutschland muss sterben“, dröhnt es aus den Lautsprechern. „Deutsche Täter sind keine Opfer“ steht auf einem Transparent und „Polen muss bis Frankreich reichen“. „Bomber Harris – Do it again“, rufen sie vor der britischen Botschaft. Kleidungsfragen, Tonfragen? „Von Berlin ist doch alles ausgegangen, warum soll das Zentrum nicht nach Berlin?“, fragt eine Frau in der Oper ihre Nachbarin. Bleibt die Frage, was sie mit „alles“ gemeint hat.

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