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Sturm der Entrüstung: Türkische Verhaltensforscherin fordert Legalisierung der Vielehe

Neue Frauenforderung in der Türkei: Die Vielehe muss legalisiert werden! Das fordert jedenfalls eine prominente Familienberaterin - und löst damit eine gewaltige Debatte aus. Männer seien nun mal von Natur aus untreu, argumentiert Sibel Üresin.

Sie ist jung, gebildet, prominent und schick - und sie hat ihre eigene Vorstellungen von Frauenpolitik: Mit der Forderung nach Legalisierung der Vielehe macht die türkische Familienberaterin Sibel Üresin derzeit Furore in der Türkei. Männer könnten es ohnehin nicht lassen, sagt die Verhaltensforscherin; statt die Augen vor dieser Tatsache zu verschließen, wäre es doch klüger, die Vielehe anzuerkennen und die Frauen rechtlich abzusichern. Das läge vor allem im Interesse der Frauen, schrieb Üresin diese Woche in der Zeitung "Haberturk". Der öffentliche Aufschrei der Frauenverbände ließ nicht lange auf sich warten, doch Üresin lässt sich nicht beirren.

Ausgelöst wurde die Debatte durch den Fall eines verheirateten Politikers, der von Erpressern beim Schäferstündchen mit einer jungen Frau gefilmt wurde. Sein Gewissen sei rein, entgegnete der Vizevorsitzende der Nationalistenpartei MHP, Mehmet Ekici, auf die Enthüllungen: Bei der jungen Frau habe es sich nicht etwa um eine Geliebte, sondern um seine Zweitfrau gehandelt.

Vielehe in Teilen der Türkei noch weit verbreitet

Die Vielehe ist in der Türkei zwar seit 1926 gesetzlich verboten, aber vor allem im kurdischen Osten und in religiös-konservativen Kreisen noch heute verbreitet. Wie weit verbreitet, das lässt sich nur schätzen, weil der Staat über das Tabu-Thema keine Statistik führt. Die meisten Experten sind sich jedoch einig, dass jeder achte bis zehnte Mann mehr als eine Ehefrau hat.

Standesamtlich heiratet der Mann dabei nur die erste Frau; mit den anderen Bräuten traut ihn ein muslimischer Imam - meist ein selbsternannter Geistlicher, der nicht vom staatlichen Religionsamt kontrolliert wird. Gesellschaftlich werden diese Ehen in ihren Kreisen als legitim angesehen, weil der Koran bis zu vier Ehefrauen erlaubt. Gesetzlich werden sie aber nicht anerkannt. Geahndet werden die Vielehen aber so gut wie nie, zumal etliche Politiker - wie Ekici - selbst mehr als eine Ehefrau haben sollen.

Zu verhindern sei die Vielweiberei ohnehin nicht, argumentiert Üresin, die sich auf ihre Erfahrungen aus jahrelanger Praxis an kommunalen Familienberatungsstellen beruft, wo sie Seminare zu den "Geheimnissen der guten Ehe" gibt und Partnerschaftsberatung anbietet. "85 Prozent aller Männer betrügen ihre Frauen", hat sie festgestellt. "Das ist einfach eine Tatsache." Darunter hätten nicht nur die betrogenen Ehefrauen zu leiden, sondern auch ihre Nebenbuhlerinnen. In westlichen Kreisen spreche man von "Geliebten", in religiösen Schichten von "Zweitfrauen", sagt Üresin, aber rechtlos seien sie alle.

Pin-Up-Girl des Islamismus

Verlassene Frauen und vaterlose Kinder seien das Ergebnis, argumentiert Üresin, die sich mit Internetkolumnen und einer Talkshow öffentlich für ihre familienpolitischen Ziele engagiert. Mit ihrer modischen Kleidung und dem kunstvoll geworfenen Kopftuch wirkt die gut aussehende und beredte 35-Jährige wie ein Pin-Up-Girl des Islamismus. Ihr eigener Ehemann habe sich bisher zwar keine Zweitfrau genommen, sagte sie Reportern jetzt auf Nachfrage, doch habe sie ihm das von Anfang an freigestellt.

Schließlich sei die Vielehe ja auch im Interesse der Erstfrau, findet Üresin. Ein Mann suche in einer Frau eine Freundin und eine sexuelle Partnerin, eine Mutter für seine Kinder und eine Hausfrau. "Wenn man nicht alle diese Eigenschaften auf sich vereinigt, dann sollte man darauf gefasst sein, betrogen zu werden." Von einer Scheidung habe die Frau aber meist mehr zu verlieren als zu gewinnen. "Wenn die Frau ihre Lage richtug analysiert, muss sie die Vielehe als Rettung sehen."

Die Entrüstung brach von allen Seiten herein. "Traurig, dass so etwas im Jahr 2011 noch gesagt werden kann", sagte die Vorsitzende der Türkischen Frauenvereinigung der kemalistischen Zeitung "Cumhuriyet". "Ein Ausdruck der patriarchalen Mentalität", kommentierte eine Feministin im linken Blatt "Evrensel". "Alle Frauen müssen sich dagegen wehren", forderte ein kurdischer Frauenverband in der Kurdenzeitung "Özgür Gündem". Die schärfste Replik lieferte allerdings die islamistische Journalistin Nihal Bengisu Karaca in der Zeitung "Haberturk". Den Unterschied zwischen Mann und Frau zu erkennen, sei das eine, als Frau ideologische Wasserträgerdienste für die Männer zu leisten, das andere, schrieb Karaca, die ebenfalls den Schleier trägt. "Das eine ist wissenschaftlich, das andere nur jämmerlich."

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