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Eine Peschmerga-Miliz im irakischen Kirkuk: Der Kurdenkonflikt im Nahen Osten zieht sich bereits seit Jahrzehnten hin.

© REUTERS

Unabhängigkeitskampf in Nahost: Der Traum von Kurdistan

Die türkische Offensive in Syrien hat nicht zuletzt das Ziel, einen autonomen Kurdenstaat zu verhindern. Es ist ein jahrzehntealter Konflikt.

Mit der türkischen Militärintervention in Syrien rücken die Kurden einmal mehr ins Zentrum des Interesses. Die rund 30 Millionen Kurden, die indogermanische Sprachen sprechen und eine der ältesten Volksgruppen im Nahen Osten bilden, sind auf vier Länder – Türkei, Irak, Iran und Syrien verteilt und werden von Arabern, Iranern und Türken gleichermaßen misstrauisch betrachtet. Nach dem Ersten Weltkrieg deutete sich vorübergehend die Gründung eines eigenen Kurdenstaates an, aus der dann aber nichts wurde. Heute genießen die Kurden im Norden Iraks eine Autonomie, die einem eigenen Staat sehr ähnelt. Doch eine Vereinigung aller Kurdengebiete bleibt eine Illusion.

Die Türkei mit ihren rund zwölf Millionen Kurden reagiert allergisch auf alles, was nach kurdischer Autonomie aussieht. Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) kämpft seit 1984 gegen Ankara und bildet jetzt mit ihren syrischen Ablegern, der Demokratischen Unionspartei (PYD) und der angeschlossenen Miliz Volksverteidigungseinheiten (YPG) eine Herausforderung für Ankara.

Die PYD hat in den Wirren des syrischen Bürgerkrieges zwei Gebietsstreifen entlang der türkischen Grenze für sich erobert und ist die wichtigste Verbündete der USA im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) im Norden Syriens. Mit amerikanischer Hilfe wehrten die Kurden vor zwei Jahren eine Belagerung der Stadt Kobani durch den IS ab – die Türkei weigerte sich damals, zugunsten der Kurden gegen den IS einzuschreiten, weil die Regierung in Ankara befürchtete, auf diese Weise die PKK zu stärken.

Türkei will keinen Kurdenstaat

Solle die PYD es schaffen, in Syrien ein einheitliches Kurdengebiet zu schaffen, wäre das aus türkischer Sicht die Keimzelle eines Kurdenstaates an der türkischen Grenze und könnte separatistische Tendenzen in der Türkei selbst neu anfachen. Die türkische Intervention in Syrien von dieser Woche reiht sich deshalb in eine mehrere Jahrzehnte zurückreichende Serie türkischer Bemühungen ein, die Bildung eines unabhängigen Kurdistans zu verhindern.

Schon in den 1920er Jahren schlug die damals noch junge türkische Republik den ersten Kurdenaufstand im neuen Staat nieder. Lange versuchte es Ankara mit einer Politik der Assimilierung, die den Kurden das Recht auf eine eigene Identität verwehrte.

Gleichzeitig schlossen die Politiker in Ankara immer wieder Absprachen mit kurdischen Clanchefs, mit denen sich die Parteien gleich blockweise viele Wählerstimmen sicherten, mit denen aber auch die soziale und wirtschaftliche Entwicklung des südostanatolischen Kurdengebietes gelähmt wurde. Als der kurdische Linksextremist Abdullah Öcalan im Jahr 1978 die PKK gründete, richtete sich der Widerstand der Kurdengruppe vor allem gegen mächtigen die kurdischen Clanchefs und deren Bündnisse mit Ankara. Der PKK-Aufstand hat mehr als 40000 Menschenleben gekostet und große Teile des Kurdengebietes verwüstet.

Im Iran, im Irak und in Syrien erging es den Kurden lange Zeit nicht viel besser. Der irakische Diktator Saddam Hussein ließ die Kurden mit Giftgas angreifen, in Syrien galten viele Kurden als Staatenlose. Im Norden Iraks entwickelte sich in den 1990er Jahren im Schutz einer vom Westen durchgesetzten Flugverbotszone jedoch ein kurdisches Autonomiegebiet, das über erheblichen Ölreichtum verfügt. Die irakischen Kurden verfügen heute über mehr Wohlstand und Selbstbestimmung als alle anderen Kurdengruppen im Nahen Osten.

Kurdenkämpfer sind schlagkräftigste Truppe gegen den IS

Pan-Kurdische Träume von einer Vereinigung aller Kurden haben sich bisher trotzdem als Seifenblasen erwiesen. Die Kurden sind wegen Machtkämpfen innerhalb der kurdischen Gesellschaften in den verschiedenen Ländern sowie zwischen den einzelnen Kurdengruppen zerstritten. Das Ergebnis sind Allianzen, die auf den ersten Blick erstaunlich wirken: So unterhält die Regierung des kurdischen Autonomiegebietes im Nordirak exzellente Beziehungen zur Türkei, während das Hauptquartier der PKK in den nordirakischen Kandil-Bergen regelmäßig von der türkischen Luftwaffe angegriffen wird. Auch die Erfolge der PKK-Verbündeten in Syrien werden von der Führung der nordirakischen Kurden nicht mit großer Begeisterung verfolgt.

Die komplizierten Frontverläufe des Nahen Ostens ermöglichten auch das Bündnis zwischen dem PKK-Ableger PYD und den USA in Syrien. Trotz aller Proteste des NATO-Verbündeten Türkei unterstützt Washington die PYD, weil die Kurdenkämpfer als schlagkräftigste Truppe im Krieg gegen den IS gelten. Das Streben der PYD nach Vereinigung der zwei von ihr kontrollierten Gebiete in Syrien entgegen aller Warnungen der Türkei war ein Grund dafür, warum sich Ankara nun zum Einmarsch in Syrien entschloss: Die türkischen Soldaten und ihre Verbündeten sollen die Kurdenkämpfer auf das von der Türkei zur „roten Linie“ erklärte Ostufer des Euphrat zurückdrängen. Ein bewaffneter Konflikt zwischen der Türkei und den syrischen Kurden könnte das Kurdenproblem auch in der Türkei weiter anheizen.

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