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Streitfall Hartz IV. Allein in Berlin sind es rund 2000 Klagen monatlich

© dpa

Urteil: Justiz hat ein Jahr für Hartz-IV-Klagen

Das Bundessozialgericht urteilt, wann Kläger wegen überlanger Verfahrensdauer Entschädigung verlangen können. Den Gerichten räumt es für die Prozesse eine "Bedenkzeit" ein. Danach muss es für Verzögerungen gute Gründe geben

Berlin - Ein Jahr darf ein Sozialgericht die Klage eines Bürgers „liegen“ lassen – danach kann eine Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer fällig werden. Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel am Mittwoch anhand von vier Fällen entschieden, in denen Betroffene zwischen fünf und acht Jahre auf ihr Recht warten mussten. Das Urteil spielt vor allem für hunderttausende Kläger eine Rolle, die vor Gericht Hartz-IV- Leistungen einfordern.

Dennoch ließe sich die Frage, wie lange ein sozialgerichtliches Verfahren dauern dürfe, nicht nach „Schema F“ beantworten, teilte das Gericht mit. Das für den Entschädigungsanspruch zuständige Landessozialgericht müsse „in jedem Einzelfall ermitteln, welche Gründe zu dieser Laufzeit geführt haben“. Die Gerichte hätten bei ihrer Prozessleitung einen weiten Gestaltungsspielraum. Sie könnten eingehende Verfahren nicht gleichzeitig und sofort erledigen, sondern müssten unter Achtung des Gebots effektiven Rechtsschutzes über die Reihenfolge entscheiden. Dabei hätten sie eine „Vorbereitungs und Bedenkzeit“ von bis zu zwölf Monaten je Instanz. Überschreite die Gesamtdauer diese Spanne, sei dies auch noch vertretbar – wenn es auf „aktiver Verfahrensgestaltung des Gerichts beruht“ oder dem Kläger anzulasten sei. Sonst könnten nur noch besondere Umstände des Einzelfalls eine längere Bearbeitungszeit rechtfertigen.

Nach diesen Maßstäben waren die vier Kläger vor dem Kasseler Gericht erfolgreich, darunter eine Hartz-IV-Empfängerin aus Berlin. In einem Streit um Arbeitslosengeld monierte das BSG, das Verfahren sei grundlos lange ausgesetzt und dann nicht zu Ende geführt worden. Dies sei kein Schuldvorwurf an die Richter, „bei denen der Tag auch nur 24 Stunden hat“. Das Risiko trage das Land, das für die Ausstattung der Gerichte zu sorgen habe. Die Fälle wurden zur erneuten Verhandlung an die Gerichte zurückverwiesen.

Seit Jahren gehören Hartz-IV-Klagen zum Standardprogramm der Sozialgerichte. Auch in Berlin sind es bis zu zwei Drittel aller Verfahren, rund 2000 Neuzugänge im Monat. Danach folgen mit großem Abstand Streitigkeiten um Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung. 2010 war ein Höhepunkt mit damals mehr als 31000 Hartz-Klagen bei knapp 44000 Neuzugängen insgesamt. Trotzdem liegt die durchschnittliche Dauer für erledigte Klagen mit 13,8 Monaten unter dem Bundesschnitt von 14,4 Monaten

Überlange Verfahrensdauern sind ein Dauerärgernis der deutschen Justiz mit menschenrechtlicher Dimension. 2006 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Verzögerungen in Deutschland als Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren gebrandmarkt. Nicht nur wegen der Dauer, sondern vor allem weil Klägern eine Möglichkeit fehlte, die Verschleppung zu rügen. Die Menschenrechtskonvention ist hier eindeutig: Fair ist ein Verfahren nur, wenn es vor einem unabhängigen Gericht „innerhalb angemessener Frist verhandelt wird“. In der Folge musste sich die Bundesrepublik wiederholt vor dem Straßburger Gericht verantworten, rund eine Million Euro Entschädigung wurden fällig, im Schnitt 7500 Euro pro Verfahren.

Ende 2012 reagierte der deutsche Gesetzgeber mit einer Vorschrift zur Staatshaftung, die in das Gerichtsverfassungsgesetz eingefügt wurde: „Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt“, heißt es seitdem. Auch nach dem Gesetzeswortlaut kommt es auf die „Umstände des Einzelfalls“ an, über die dann wiederum ein Gericht zu entscheiden hat. Außerdem ist es wichtig, die lange Dauer schon im Verfahren selbst ausdrücklich zu bemängeln; sonst ist ein Anspruch ausgeschlossen.

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