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Politik: „Viele fühlen sich hilflos gegenüber den Behörden“ Politikexpertin Irene Becker

über verdeckte Armut.

Viele bedürftige Menschen verzichten auf staatliche Unterstützung, obwohl sie Anspruch darauf hätten. Wie groß ist verdeckte Armut?

In Deutschland gibt es knapp 4,5 Millionen Menschen, denen Leistungen aus Hartz IV zustehen würden, die sie aber nicht beantragen. Das heißt: Vier von zehn Personen nehmen ihre Ansprüche nicht wahr. Natürlich sind das nur vorsichtige Schätzungen, die ich vorgenommen habe. Aber andere Untersuchungen kommen auf vergleichbare Quoten der Nichtinanspruchnahme.

Warum lassen sich so viele Menschen finanziell nicht helfen?

Vielen fällt es schwer, ihre Notlage zu offenbaren. Wir sprechen deshalb auch von verschämter Armut. Wer in Deutschland von Transfers lebt, wird außerdem schnell abgestempelt. Viele Geringverdiener wollen nicht als Hartz- IV-Empfänger stigmatisiert werden. Nach meinen Untersuchungen gibt es knapp 650 000 Vollzeitbeschäftigte, die ihre Ansprüche auf aufstockende Leistungen nicht geltend machen. Umgerechnet heißt das: Nicht einmal jeder Zweite in dieser Gruppe verlangt vom Staat die Hilfe, die ihm eigentlich zustehen würde. Bei den Teilzeitbeschäftigten sind es weitere 545 000 Personen, das entspricht sogar 61 Prozent. Befragungen zeigen, dass viele Betroffene sich gegenüber den Behörden hilflos fühlen. Einen Antrag auf Leistungen aus Hartz IV zu stellen, ist ja auch nicht gerade einfach.

Mit der Einführung der Grundsicherung im Alter wollte die Politik die verschämte Altersarmut bekämpfen. Ist das denn gelungen?

Leider viel zu wenig. Nach meinen Schätzungen gibt es 840 000 über 65-Jährige, die keine Grundsicherung beantragt haben, obwohl sie nur eine Mini-Rente beziehen und ihnen Unterstützung zustünde. Hier liegt die Quote der Nichtinanspruchnahme sogar bei 71 Prozent.

Woran liegt das?

Früher mussten Kinder oft für ihre Eltern einspringen, wenn diese Sozialhilfe beantragt haben. Viele Ältere haben heute wahrscheinlich immer noch Angst davor, dass ihre Kinder herangezogen werden, wenn sie zum Grundsicherungsamt gehen. Dabei hat sich die Rechtslage hier geändert. Es gibt offenbar eine große Unkenntnis, unter welchen Bedingungen man Grundsicherung bekommen kann. Außerdem ist bei einem Teil der Älteren das Gefühl verbreitet, dass sie dem Staat nicht zur Last fallen wollen.

Die Fragen stellte Cordula Eubel.

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