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Oft überfordert. Pflegende Angehörige nehmen zu selten professionelle Hilfe in Anspruch.

© REUTERS

Viele pflegende Angehörige nutzen Hilfsangebote nicht: Aus Scham überfordert

Viele pflegende Angehörige nehmen keine Pflegedienste in Anspruch - obwohl sie Hilfe dringend benötigen würden. Die Gründe sind Scham, Zuzahlungen und Schwellenangst.

Trotz starker Belastung nutzt nur eine Minderheit der pflegenden Angehörigen die Unterstützungsangebote der Pflegeversicherung. Zu diesem Befund kommen die Autoren des neuen AOK-Pflegereports, der am Montag in Berlin präsentiert wurde. Ihrer Umfrage zufolge werden bestehende Pflegekassenofferten wie Kurzzeit-, Verhinderungs- oder Tagespflege von nicht mal jedem fünften Pflegenden in Anspruch genommen. Mehr als 36 Prozent verzichten sogar auf einen ambulanten Pflegedienst.

Mit fehlendem Wissen über bestehende Hilfsmöglichkeiten ist diese Enthaltsamkeit nicht zu erklären. 93 Prozent kennen das Angebot ambulanter Pflegedienste. Drei von vier Befragten sind auch die anderen Offerten ein Begriff. Und jeder vierte Nichtnutzer räumte ein, dass er die verschmähten Leistungen eigentlich benötigen würde. Doch warum verzichten dann so viele auf professionelle Hilfe von außen?

Viele wollen nicht von "Fremden" gepflegt werden

Zuvorderst hat das mit Scham zu tun. Als Hauptgrund für nichtgeorderte Pflegedienste nannten fast 60 Prozent, dass ihre Angehörigen nicht „von Fremden“ gepflegt werden wollten. Je älter die Pflegebedürftigen, desto häufiger sei dieses Argument genannt worden, berichtete Antje Schwinger, die Leisterin des Forschungsbereichs Pflege im Wissenschaftlichen Institut der AOK.

Fast ebenso viele empfanden die Hilfsangebote, an denen sie sich finanziell beteiligen müssten, als zu teuer. Und gut jeder Fünfte begründete seine Enthaltsamkeit damit, dass es in der Nähe keine passenden Angebote gebe, dass man mit den Anträgen nicht klargekommen sei, dass der Aufwand zu hoch wäre (speziell für Tagespflege) oder dass man mit den Helfern schlechte Erfahrungen gemacht habe.

Mit der zweiten Stufe der Pflegereform flössen ab 2017 fünf Milliarden Euro mehr in die Pflege, betonte der Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch. Entscheidend sei nun, dass dieses Geld auch bei den Pflegebedürftigen ankomme. Um die Inanspruchnahme zu erhöhen, müssten die Leistungen einfacher und flexibler gestaltet werden, forderte er. So wäre es aus AOK-Sicht sinnvoll, die Budgets für Verhinderungs- und Kurzzeitpflege zusammenzulegen.

AOK fordert ein frei verfügbares Budget für Ersatzpflege

Ob Pflegebedürftige bei einer Auszeit ihrer Angehörigen im Heim, durch einen Pflegedienst oder von Privatpersonen betreut würden, sollten die Pflegenden selbst entscheiden, verlangte Litsch. Dafür müsse ihnen pro Jahr ein zusätzliches Budget von 3224 Euro für 14 Wochen zur Verfügung stehen. „Das wäre ein wichtiger Schritt zu mehr Transparenz im Dickicht der Pflegeleistungen.“ Außerdem erhöhe dies die Wahlmöglichkeiten der Angehörigen.

Von den rund 2,7 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland würden rund zwei Millionen zu Hause betreut, betonte der AOK-Chef. Und bei 65 Prozent geschehe dies ausschließlich durch Angehörige.

Privatpflege erspart der Gesellschaft pro Jahr 37 Milliarden Euro

Die Wertschöpfung für diese ungeheure Leistung liege, den Mindestlohn zugrundegelegt, bei 37 Milliarden Euro im Jahr, rechnete er vor. Das entspricht den Jahresausgaben für die gesamte ärztliche Versorgung in Deutschland. Oder für alle verschriebenen Arzneimittel. Die komplette Pflegeversicherung kommt nur auf Einnahmen von 26 Milliarden Euro im Jahr.

Um den steigenden Pflegebedarf zu bewältigen, biete ein „Versorgungsmix“ aus familiärer und professioneller Pflege gute Voraussetzungen, sagte die Direktorin des Instituts für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft an der Berliner Charite, Adelheid Kuhlmey. Allerdings müssten die vorhandenen Potenziale voll ausgeschöpft werden.

Pflegebereitschaft von Angehörigen nach wie vor hoch

Der These, dass hierzulande immer weniger Menschen zur Pflege ihrer Angehörigen willens oder in der Lage seien, schloss sich Kuhlmey nicht an. Der Beweis dafür stehe aus, sagte sie. In den Familien gebe es emotional nach wie vor eine hohe Pflegebereitschaft. Was sich ändere, seien die Unterstützungsarten.

Wichtig sei es, darauf zu achten, dass die Entlastungsangebote die Bedürfnisse der Pflegenden erfüllten. Und dass sie auch mehr Männer ansprächen. 73 Prozent der privat Pflegenden seien Frauen, betonte Kuhlmey. Die Gleichstellungsdebatte müsse auch „auf den Bereich der Versorgung Pflegebedürftiger ausgeweitet werden“.

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