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Beate Zschäpe im März vor Gericht in München.

© dpa/Matthias Schrader

Vier Jahre NSU-Prozess: 361 Verhandlungstage, 500 Zeugen und kein Ende

Seit vier Jahren muss sich Beate Zschäpe als Hauptangeklagte im NSU-Prozess vor Gericht verantworten. Doch ein Ende des aufsehenerregenden Verfahrens ist nicht in Sicht.

Von Frank Jansen

An diesem Sonnabend sind im NSU-Prozess vier Jahre absolviert – und niemand wagt zu prophezeien, wann die Hauptverhandlung am Oberlandesgericht München ein Ende finden wird. Bei den Prozessparteien ist nur vage von „wohl noch in diesem Jahr“ die Rede. Der sechste Strafsenat unter Vorsitz von Manfred Götzl hat allerdings vorsorglich Termine bis Januar 2018 benannt. Der Prozess startete am 6. Mai 2013 und dauert und dauert. Hartnäckig ringen Verteidiger, Bundesanwaltschaft und Nebenklage-Anwälte um ihre Positionen. Es ist ihr gutes Recht, aber auch für alle Beteiligten eine Tortur. Vor allem für die Angehörigen der zehn Mordopfer des NSU und für die Überlebenden der beiden Sprengstoffanschläge in Köln und der 15 Raubüberfälle auf Filialen der Sparkasse, der Post und einen Supermarkt.

Der aktuelle Verhandlungsstand

In 361 Verhandlungstagen wurden mehr als 500 Zeugen gehört und Dutzende Sachverständige. Die Verteidiger von Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben stellten mehr als 20 Befangenheitsanträge gegen Götzl und weitere Richter. Die Opfer-Anwälte stellten viele Beweisanträge, eine genaue Zahl ist nicht bekannt. Den Steuerzahler kostete der Prozess bislang schätzungsweise mehr als 50 Millionen Euro. Und er wird noch teurer. In der Beweisaufnahme tut sich allerdings schon seit Monaten nicht mehr viel. Alle Verbrechen der Terrorzelle, die in der Anklage der Bundesanwaltschaft genannt werden, waren bereits ausführlich Thema.

Aktuell stehen die Gefechte im Vordergrund, die vor allem die Anwälte Zschäpes und die Hauptangeklagte selbst führen – mit den Richtern, aber auch untereinander. Außerdem versuchen die Verteidiger des Ex-NPD-Funktionärs Ralf Wohlleben mit abstrusen Anträgen das Ende der Beweisaufnahme hinauszuzögern und rechtsextreme Verschwörungstheorien zu verbreiten. Die Anwälte wollten unter anderem im NSU-Prozess den angeblichen Mord an Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß klären lassen. Heß hatte sich 1987 in seiner Zelle im Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau erhängt.

Richter Götzl versucht nun zum zweiten Mal, die Beweisaufnahme trotz aller Manöver zu einem Ende zu bringen. Vergangene Woche hat er mit dem 17. Mai wieder eine Frist für neue Beweisanträge gesetzt. Mit seiner ersten Fristsetzung Anfang März kam Götzl allerdings nicht durch. Die Verteidiger von Zschäpe und Wohlleben deckten die Richter mit Befangenheitsanträgen ein. Der von Götzl genannte 14. März verstrich.

Mögliches Urteil für Beate Zschäpe

Beate Zschäpe (42) hat alles versucht, um einem harten Urteil zu entgehen. Erst schwieg sie jahrelang hartnäckig, dann ließ Zschäpe über ihre neuen Anwälte eine Einlassung und Antworten auf Fragen der Richter vortragen. Der Tenor lautete: Ich wollte die Morde und Sprengstoffanschläge nicht, aber ich konnte mich von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos nicht trennen. Die Raubüberfälle hatte Zschäpe gebilligt, da die drei von dem Geld leben mussten. Und aus Anhänglichkeit zu den beiden Uwes will Zschäpe nach deren Selbstmord die gemeinsame Wohnung in Zwickau angezündet und auf der Flucht die 15 Exemplare der Bekenner-DVD des NSU verschickt haben. Mit der Einlassung hat sich die Angeklagte vermutlich mehr belastet, als ihr bewusst ist.

Zschäpe sieht sich jedoch als Opfer. Die Selbststilisierung zur emotional abhängigen Statistin, die sich vor allem von ihrem Freund Böhnhardt trotz seiner Brutalität nicht lösen konnte, hat Zschäpe jetzt noch gesteigert. Dem Freiburger Psychiatrieprofessor Joachim Bauer erzählte sie von Februar bis April bei sieben Treffen dramatische Geschichten, die der Mediziner als Beleg für eine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit Zschäpes im Untergrund wertet. Das Gutachten, das Bauer am Mittwoch im Prozess vortrug, hat allerdings Mängel. Der Psychiater hat von der vierjährigen Beweisaufnahme wenig mitbekommen und nur selektiv Aussagen von Zeugen verwertet. Außerdem nutzte Bauer die Angaben von Zschäpes Mutter gegenüber der Polizei, obwohl die Frau im Prozess der Einführung des Protokolls widersprochen und auch sonst keine Aussage gemacht hatte.

Dass Götzl und seine Kollegen die Rolle der Gefährtin von Böhnhardt und Mundlos ähnlich werten wie Bauer, ist wenig wahrscheinlich. Der Strafsenat hatte die Anklage der Bundesanwaltschaft unverändert zugelassen und in den vier Jahren Prozess nie angedeutet, an den Vorwürfen zu zweifeln. Zeugen haben zudem Zschäpe ein selbstbewusstes Auftreten bescheinigt. Das Verhältnis zu den beiden Uwes galt als harmonisch. Außerdem hat die angeblich zerbrechliche Angeklagte ihre drei ersten Anwälte, Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm, rabiat verstoßen. Eine Verurteilung Zschäpes als Mitglied des NSU und Mittäterin bei allen Straftaten ist eher zu erwarten als ein Richterspruch, in dem der Angeklagten mildernde Umstände zugebilligt werden. Bei einem Urteil im Sinne der Anklage wäre die logische Strafe lebenslänglich mit besonderer Schwere der Schuld. Zschäpe, die seit November 2011 in Untersuchungshaft sitzt, müsste dann womöglich mehr als 20 Jahre hinter Gittern verbringen. Der vom Gericht bestellte Psychiater Henning Saß deutete gar die Notwendigkeit von Sicherungsverwahrung für die Zeit nach der Haft an.

Mögliches Urteil für die übrigen Angeklagten

Nahezu unvermeidbar erscheint eine harte Strafe für Ralf Wohlleben, ehemals Vizechef der NPD in Thüringen. Der 42 Jahre alte bekennende Rechtsextremist hat mutmaßlich die Beschaffung der Pistole Ceska 83 samt Schalldämpfer und Munition organisiert, mit der Böhnhardt und Mundlos neun Migranten türkischer und griechischer Herkunft erschossen. Anträge der ebenfalls rechten Verteidiger Wohllebens, ihn aus der Haft zu entlassen, lehnte der Strafsenat ab. Und der Bundesgerichtshof, bei dem sich die Anwälte beschwerten, äußerte sich noch strenger. Der dringend tatverdächtige Wohlleben habe eine Strafe zu erwarten, die auch eine Untersuchungshaft von erheblicher Dauer noch deutlich übersteige, hieß es vor zwei Jahren in einem Beschluss der Karlsruher Richter. Wohlleben sitzt auch seit November 2011 in Untersuchungshaft.

Auf freiem Fuß und in einem Zeugenschutzprogramm des BKA befindet sich Carsten S. (37), der nach eigenen Angaben die Ceska 83 nach Chemnitz zu Böhnhardt und Mundlos gebracht hat. Carsten S. hat vom fünften Prozesstag an umfangreich ausgesagt und Wohlleben massiv belastet. Unter Tränen sprach Carsten S. auch von einem weiteren Anschlag, den die Behörden bis dahin nicht dem NSU zugeordnet hatten. Im Juni 1999 war in einem türkischen Lokal in Nürnberg eine mit Sprengstoff präparierte Taschenlampe explodiert, die Böhnhardt und Mundlos dort abgestellt hatten. Ein Angestellter wurde verletzt. Das detailreiche Geständnis bewahrt Carsten S. vermutlich vor einer harten Strafe, obwohl er sich wie Wohlleben wegen Beihilfe zu neunfachem Mord verantworten muss.

Die Angeklagten Holger G. (42) und André E. (37), beide auf freiem Fuß, hatten bis zuletzt Kontakt zur Terrorzelle. Holger G. gab zu Beginn des Prozesses zu, den Untergetauchten mit einem manipulierten Reisepass für Böhnhardt und weiteren Dokumenten geholfen zu haben. Der Angeklagte weigert sich allerdings bis heute, Fragen zu seinem vom Blatt abgelesenen Geständnis zu beantworten. Eine Haftstrafe wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung erscheint naheliegend. Ebenso sieht es bei André E. aus. Der bis zu Hals und Fingerknochen tätowierte Angeklagte war mutmaßlich mit Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe befreundet. Laut Anklage mietete André E. Wohnmobile für Mundlos und Böhnhardt. Die Neonazis sollen damit zu zwei Raubüberfällen in Chemnitz und dem ersten Sprengstoffanschlag in Köln gefahren sein. André E. soll auch mit einer Bahncard geholfen und sich daran beteiligt haben, die Identität der drei gesuchten Rechtsextremisten zu verschleiern. Der Angeklagte sagt allerdings kein Wort. Dennoch ist aufgrund von Zeugenaussagen und Indizien eine Strafe wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung wahrscheinlich.

Die Zukunft des Prozesses

Richter Götzl hat diese Woche noch einmal auf drastische Weise deutlich gemacht, dass er fast keinen Stoff mehr für die Beweisaufnahme sieht. Am Mittwoch setzte er alle geplanten Prozesstage bis Mitte Mai ab, weil es für diese Termine kein Programm gebe. Das kam überraschend, weil zumindest über das Zschäpe-Gutachten des Freiburger Psychiaters Bauer noch zu reden ist. Die Prozessparteien und wohl auch der erste Gutachter Henning Saß werden Bauer befragen wollen. Denkbar ist zudem, dass von Verteidigern, sowie aus den Reihen der Opfer-Anwälte noch Beweisanträge kommen. Der Strafsenat will allerdings, dass sobald wie möglich das nächste Kapitel beginnt – die Plädoyers. Sie dürften langwierig werden.

Relativ kurz wird vermutlich nur die Bundesanwaltschaft plädieren – und lakonisch feststellen, dass die Beweisaufnahme die Anklage weithin bestätigt habe. Die Verteidiger von Zschäpe und Wohlleben werden hingegen umfassend widersprechen. Und womöglich noch Hilfsbeweisanträge stellen, die dann eine zeitweise Rückkehr in die Beweisaufnahme nötig machen könnten. Im Fall Zschäpe erscheint zudem die makabere Variante denkbar, dass die drei alten und die zwei neuen Verteidiger, die sich nicht sonderlich mögen, je ein eigenes Plädoyer vortragen wollen.

Ausführlich und mit vielen Hinweisen auf staatliche Versäumnisse im NSU-Komplex werden die Anwälte der Nebenkläger plädieren. Ungefähr 50 sind regelmäßig anwesend. Vermutlich wird aber nicht jeder einen eigenen Vortrag halten. Die meisten Opferanwälte werden in Gruppen ein Plädoyer präsentieren. Aber auch das dürfte dauern. Und wenn Götzl dann einen Termin für die Urteilsverkündung bekannt gibt, ist dennoch nicht auszuschließen, dass am Morgen des geplant letzten Tages noch ein Befangenheitsantrag eingeht. Jedenfalls ist nach vier Jahren Prozess ein Ende ohne Komplikationen schwer vorstellbar.

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