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Emotional. Türken protestieren vor der Schweizer Botschaft in Ankara. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wird die Klage des Politikers Dogu Perincek wegen Verletzung seiner Meinungsfreiheit verhandelt. Ein Schweizer Gericht hatte ihn wegen Leugnung des Völkermords verurteilt.

© Adem Alta/AFP

Vor dem 100. Jahrestag der Massaker: Die neue Armenien-Strategie der Türkei

Präsident Recep Tayyip Erdogan will die Ereignisse von 1915 wissenschaftlich untersuchen lassen. Sein Ziel: Eine weltweite Anerkennung des Genozids vermeiden.

Angriff ist die beste Verteidigung, mag sich Recep Tayyip Erdogan denken. Seit Neuestem geht der türkische Präsident im Streit um eines der schwierigsten Kapitel in der Geschichte seines Landes in die Offensive. Kurz vor dem 100. Jahrestag der Armenier-Massaker im Osmanischen Reich in diesem April setzt Erdogan auf neue Initiativen, mit der die Türkei ihre Offenheit und Gesprächsbereitschaft demonstrieren will. Ziel ist es, eine weltweite Anerkennung des Genozids zum Jahrestag zu vermeiden.

Recep Tayyip Erdogan schlägt eine Historikerkommission vor

Im Mittelpunkt der Bemühungen steht Erdogans Vorschlag zur Bildung einer Historikerkommission, die den Genozid-Vorwurf untersuchen soll. Ende Januar hatte der Präsident erklärt, die Türkei werde sich dem Urteil der Experten beugen – also auch eine Einstufung der Massaker als Völkermord akzeptieren.

Nun sagte Erdogan während eines Besuches in Kolumbien, die Türkei habe bereits rund eine Million Dokumente aus den Archiven für die historische Forschung freigegeben. Er wünsche sich, dass Armenien und Drittstaaten diesem Beispiel folgten. Die Türkei werde auch weiterhin für „Frieden und Dialog beim Thema der Ereignisse von 1915“ werben.

„Lasst uns Historiker, Politikwissenschaftler und Juristen beauftragen“, sagte Erdogan der Nachrichtenagentur Anadolu zufolge bei einer Rede in Bogotá. Wenn die Experten ihre Arbeit gemacht hätten, solle das Ergebnis den Politikern vorgelegt werden. 2014 hatte Erdogan – damals als Ministerpräsident – erstmals offiziell des Leids der Armenier während der Ereignisse von 1915 gedacht. Dennoch sind bisher alle Bemühungen gescheitert, die gespannten Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei zu normalisieren. Die Grenze der beiden Nachbarstaaten bleibt geschlossen.

Armenien argumentiert, der Völkermord sei eine Tatsache

Armenien lehnt Erdogans Idee einer Expertenkommission ab und argumentiert, über die Tatsache des Völkermordes müsse nicht mehr diskutiert werden. Erdogan kontert, damit zeige sich, wer gesprächsbereit sei und wer nicht. In Bogota betonte er, die armenische Diaspora habe die ausgestreckte Hand der Türkei „in der Luft hängen lassen“.

Auch für den besonders kritischen 24. April – den Jahrestag des Beginns der Armenier-Deportationen 1915 – sorgt Ankara vor. Erdogan hat für dieses Datum Staatsgäste aus mehr als 100 Ländern eingeladen, auch seinen armenischen Amtskollegen Serke Sarkissjan. Allerdings gilt das geplante Treffen nicht der Erinnerung an die Armenier-Massaker, sondern dem Gedenken an die Schlacht von Gallipoli, in der die Türken im Ersten Weltkrieg einen Angriff der Entente-Mächte an der Meerenge der Dardanellen abwehrten. Wie nicht anders zu erwarten, lehnte Sarkissjan die Einladung zu dieser Feierstunde ab.

Die meisten internationalen Forscher gehen von einem Genozid aus

Bei aller Gesprächsbereitschaft bleiben Erdogan und die türkische Regierung bei ihrer Haltung, es habe nie einen Völkermord gegeben. Bei einer Zwangsumsiedlung der Armenier seien viele Menschen ums Leben gekommen, lautet die offizielle Darstellung der Türkei. Dagegen gehen Armenier und die meisten internationalen Forscher von einem Genozid aus. Bisher haben Regierungen und Parlamente von mehr als einem Dutzend Staaten den Völkermord offiziell anerkannt. Erdogans Gastgeber in Kolumbien gehören nicht dazu.

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