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Vorsorge für den Krisenfall: Die deutschen Lebensmittel-Reserven in der Kritik

Große Mengen Nahrungsgüter werden hierzulande für Krisenzeiten gehortet. Wie sinnvoll ist das?

Die Idee stammt aus den 60er Jahren, ist ein Erbe des Ost-West-Konflikts und wurde in den 80ern durch das Atomunglück in Tschernobyl nochmals befeuert. In Kriegs- und Krisenfällen, nach Naturkatastrophen, Seuchenausbrüchen oder Terroranschlägen sollte die Bevölkerung wenigstens übergangsweise mit Lebensmitteln versorgt sein. An geheimen Orten, verteilt über die ganze Republik, lagern deshalb tonnenweise Getreide und Hülsenfrüchte, der Bund gibt für die Vorratshaltung jährlich Millionen aus. Der Bundesrechnungshof hat dieses Hamster-Prinzip nun in Frage gestellt.

Was kritisiert der Bundesrechnungshof?

Veraltete und teilweise schlicht ignorierte Vorgaben, fehlende Krisenplanung und das Missverhältnis zwischen finanziellem Aufwand und Gewinn für die Bevölkerung. Obwohl die Lebensmittelvorsorge viel Geld koste, werde sie „nicht mit Nachdruck betrieben“, heißt es in dem Prüfbericht. Die Notvorräte berücksichtigten weder Bevölkerungsentwicklung noch aktuelles ernährungsphysiologisches Wissen, die Rechtsvorschriften seien „uneinheitlich und unvollständig“, zudem gebe es kein Gesamtkonzept zur Krisenbewältigung, bei dem etwa auch Trinkwasser-, Energie- und Verkehrssicherung berücksichtigt seien. All dies gebe „Anlass zur Sorge, dass die Versorgung der Bevölkerung in einem großflächigen Krisenfall nicht gesichert werden kann“.

Das Verbraucherministerium weist die Kritik mit dem Hinweis zurück, dass man mit den Ländern doch längst an Verbesserungen arbeite – und dafür die Kritik des Bundesrechnungshofs gar nicht benötigt hätte. „Bund und Länder erkennen den Reformbedarf an“, sagt Sprecher Holger Eichele. Man habe bereits ein Forschungsvorhaben initiiert und auch eine gemeinsame Projektgruppe gebildet, welche „die Modernisierung vorantreiben soll“.

Welche Lebensmittel werden in welchem Umfang vorgehalten?

Es handelt sich, wegen der besseren Lagerfähigkeit, fast ausschließlich um Rohprodukte. Die so genannte „Bundesreserve Getreide“ (BRG) besteht aus Weizen, Roggen und Hafer, aus denen sich im Notfall Mehl herstellen und Brot backen lässt. Zudem gibt es eine „Zivile Notfallreserve“ (ZNR), die den Bewohnern von Ballungsregionen wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag garantieren soll: Reis, Erbsen, Linsen und Kondensmilch. Zehn Jahre, so die Vorgabe, sollten die Lebensmittel haltbar sein. Die Produktpalette und die vorgesehenen Mengen stammen allerdings zum größten Teil bereits aus dem Jahr 1995, heißt es im Prüfbericht. Und die als erforderlich angesehene Warenmenge sei „nie erreicht“ worden.

Für eine ausgewogene Ernährung fehle es, nachdem keine Fleischreserven mehr vorgehalten würden, an pflanzlichen Fetten und Ölen, beanstandete die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung schon vor 17 Jahren. Und aus der Sicht des Ministeriums könnten künftig auch Fertiggerichte oder zumindest weiterverarbeitete Produkte wie Nudeln und Mehl einbezogen werden. Geändert wurde bisher aber nichts – obwohl alle Beteiligten wissen, dass die Beschränkung auf Riesenmengen von Rohprodukten zur Überbrückung von Krisen wenig Sinn macht. Im Jahr 2010 lagerten in den Geheimdepots etwa 440 000 Tonnen Weizen, 50 000 Tonnen Roggen und 140 000 Tonnen Hafer. Gesellschafter eines Mühlenwerks haben ausgerechnet, dass allein die Weiterverarbeitung des eingelagerten Hafers ein halbes Jahr dauern würde.

Was kostet die Lagerhaltung?

Laut Prüfbericht betrugen die Kosten für den Kauf der Lebensmittel, ihre Lagerung sowie die Verwaltung für die Jahre 2001 bis 2010 rund 150 Millionen Euro. Hinzu kommt die Bezahlung von etwa 30 Vollzeitbeschäftigten. Die Hallen müssen angemietet und hygienisch instand gehalten, der Zustand der Lebensmittel regelmäßig überprüft werden. Pro Jahr kostet das im Schnitt rund 17,5 Millionen Euro. Allerdings seien diese Kosten für das Parlament „kaum transparent“, bemängelt der Rechnungshof. Die tatsächlich anfallenden Kosten seien weder aus den Haushaltstiteln vollständig ableitbar noch verschaffe sich das Verbraucherministerium darüber Kenntnis.

Wo sind die Lebensmittel deponiert?

An etwa 150 gemieteten Depots, die übers ganze Land verteilt sind. Die Standorte sind geheim – um sie im Krisenfall nicht zum Ziel von Plünderungen werden zu lassen. Allerdings gibt es, nach einer Festlegung aus dem Jahr 1997, zahlreiche Vorgaben. So sollten die Lager in der Nähe von Ballungsgebieten und Mühlen, geografisch gut verteilt und nicht in Nachbarschaft von Militäreinrichtungen oder großtechnischen Anlagen liegen. Beim Versuch, all dies zu berücksichtigen, seien die Behörden jedoch auf Grenzen gestoßen, heißt es im Prüfbericht. „Die Lagerräume entsprachen (...) immer weniger den vorgegebenen Kriterien“ – insbesondere, weil sich die Anmietung in wirtschaftlich prosperierenden Gebieten als zu teuer herausgestellt habe. Recherchen des Rechnungshofes ergaben, dass sich die Lager teilweise „in unmittelbarer Nähe zu Kernkraftwerken oder Erdölraffinerien“ und teilweise auch „über 100 Straßenkilometer von Ballungsgebieten oder Verarbeitungsbetrieben entfernt befinden“. In der Region Rhein/Neckar und Stuttgart etwa gebe es keine ausreichenden Lagerflächen, beanstanden die Prüfer. Und die Vorräte an Kondensmilch lagerten gerade einmal bei vier milchverarbeitenden Betrieben in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.

Was passiert mit den Nahrungsmitteln?

Nach etwa zehn Jahren werden sie ausgetauscht oder „gewälzt“, wie die Fachleute sagen. Dabei werden die Lebensmittel jedoch nicht etwa weggeworfen, sondern per Ausschreibung an Händler weiterverkauft und wieder in den Markt gebracht. Alles andere würde ja auch den aktuellen Appellen der Verbraucherministerin widersprechen, die Verschwendung von Lebensmitteln einzudämmen.

Wie würde im Ernstfall mit diesen Vorräten umgegangen?

Die Länder müssten den Bund formell um Hilfe bitten und angeben, wie viel Lebensmittel sie benötigen. Sie bekämen dann mitgeteilt, wo sie die Vorräte abholen können. Transport und Weiterverarbeitung wären Ländersache, Hilfsorganisationen und die Bundeswehr könnten beteiligt, auch Speditionen verpflichtet werden. Je nach eingelagertem Produkt und Umfang der Tagesration reichten die Vorräte dann, so heißt es amtlich, „wenige Tage bis mehrere Wochen“. Allerdings nützt das aus Sicht der Rechnungsprüfer alles herzlich wenig ohne ein Gesamtkonzept für Krisenfälle. Die Ernährungsnotfallvorsorge sei „nicht ausreichend in weitere Überlegungen zur Krisenbewältigung einbezogen“, kritisieren sie. Die Schnittstellen zu Trinkwasserversorgung, Verkehr, Energie und Lebensmittelverteilung seien „nicht im erforderlichen Umfang herausgearbeitet, beschrieben und durch festgelegte Abläufe erfasst“. Und nicht einmal für die Lebensmittelversorgung sei geklärt, „wer, wann und zu welchem Zeitpunkt Maßnahmen ergreifen soll“. Außerdem sei es Bund und Ländern in mehr als 20 Jahren „nicht gelungen, ein einheitliches Regelwerk für Versorgungskrisen zu erlassen“.

Sind die Vorräte bisher schon einmal in Anspruch genommen worden?

Ja, allerdings nicht für die deutsche Bevölkerung – obwohl es auch hierzulande nach diversen Schnee- und Hochwasserkatastrophen hie und da regionale Versorgungsengpässe gab. An Ostern 1999 jedoch ging ein Teil der Notvorräte ins Ausland. Bundeswehr und Hilfsorganisationen lieferten mehrere hundert Tonnen Hülsenfrüchte in den Kosovo, wo Kriegsflüchtlinge dringend Grundnahrungsmittel benötigten. Auch dort galt es aber nur, kurzfristige Not zu überbrücken. Eine längerfristige Versorgung von 80 Millionen Bundesbürgern sei auch durch eine modernisierte Vorratshaltung von Lebensmitteln nicht möglich, argumentiert das Verbraucherministerium.

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