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Für den Fall: Warum die Nato über ihre Strategie entscheiden muss

Am Freitag trifft sich die Nato, um über ihre künftige Strategie zu entscheiden. Für Generalsekretär Rasmussen ist eine Neuausrichtung nötig.

Von Michael Schmidt

Als der Däne Anders Fogh Rasmussen im August 2009 das Amt des Nato-Generalsekretärs übernahm, tat er das mit der ausdrücklichen Absicht, das größte Militärbündnis der Weltgeschichte fit für das 21. Jahrhundert zu machen. Neue Aufgaben, Probleme, Herausforderungen, kurz: eine vollständig veränderte Weltlage, machen, so seine Diagnose, eine strategische Neuausrichtung der Allianz nötig. Es geht ihm um nicht mehr und nicht weniger als das Selbstverständnis und die Identität der Nato, um die Fragen, wen das Bündnis künftig verteidigt und wer seine Feinde sind. Zu klären ist ferner, wie das Verhältnis zu Russland aussehen soll und was die originären Aufgaben der Nato sind, etwa in Abgrenzung zu den Vereinten Nationen und der EU.

Wie ist die Ausgangslage?

Das alte Konzept stammt aus dem Jahr 1999. Aus einer Zeit also, als der islamistische Terrorismus noch kaum als ernst zu nehmender politischer Faktor galt; als Piraterie ein Phänomen der Vergangenheit und allenfalls Thema romantischer Abenteuerromane zu sein schien; und als die Welt keine Vorstellung davon hatte, dass das World Wide Web einmal sicherheitspolitisch die Achillesferse moderner Staaten und Gesellschaften sein könnte. Heute, mehr als ein Jahrzehnt später, hat sich die Zahl der Nato-Mitglieder fast verdoppelt, aber die Mittel des Bündnisses in Zeiten knapper Kassen sind beschränkt. Am kommenden Freitag treffen sich deshalb die Regierungschefs der 28 Nato-Staaten in Lissabon zu, so Rasmussen, einem der wichtigsten Gipfel in der Geschichte der Allianz, um über die neue politische Grundlage des Verteidigungsbündnisses zu entscheiden. Moderner soll es werden, mobiler und sparsamer.

Was kennzeichnet die neue Ausrichtung?

Wichtigstes Prinzip, Daseinszweck und Gründungsimpuls ist die kollektive Verteidigung nach Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrags von 1949. So soll es auch bleiben: Ein bewaffneter Angriff auf einen oder mehrere Mitgliedstaaten wird als ein Angriff auf alle verstanden. Diesen sogenannten Bündnis- oder Verteidigungsfall hat die Nato in ihrer Geschichte erst ein einziges Mal ausgerufen, nach den Terrorangriffen der Al Qaida auf die USA am 11. September 2001.

Neben Abschreckung und gemeinsame Verteidigung treten als Kernaufgaben die Förderung von Stabilität weltweit und das Management von Krisen – vage Formulierungen, hinter denen sich vor allem internationale Interventionen zur Konfliktprävention und -eindämmung verbergen. Als größte Bedrohungen der Gegenwart werden der internationale Terrorismus, Raketenangriffe und Cyberattacken angesehen. Vor allem in Deutschland umstritten bleibt der Wunsch des Nato-Generalsekretärs, die Nato möge in Zukunft auch die Sicherheit der Energieversorgung gewährleisten.

Wie verhält sich die Nato zu Russland?

Das Verhältnis zu Moskau spielt eine zentrale Rolle im neuen Konzept. Das Thema bleibt heikel für das westliche Bündnis, das einst zur Abschreckung einer sowjetischen Aggression gegründet wurde. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden zahlreiche Nachfolgestaaten Mitglied der Nato – deren Außengrenze damit immer näher an Russland herangerückt ist. Der Kreml fühlt sich bedroht, reagiert mit Argwohn und Drohgebärden, was wiederum in den osteuropäischen Bündnisländern alte Ängste vor dem großen Nachbarn schürt.

Rasmussen betont, dass ohne Mitwirkung Russlands weltweite Stabilität nicht zu erreichen sei. Deshalb sucht man zum Beispiel auch beim Thema Raketenabwehr in Europa die Zusammenarbeit mit Moskau. Die USA wollen mit Beteiligung der Nato-Staaten einen Raketenschirm aufbauen. Der ehemalige US-Präsident George W. Bush wollte den Raketenschild noch bilateral mit Polen und Tschechien aufbauen, was Moskau als Bedrohung empfand. Zuletzt aber zeigte sich Russland durchaus offen für eine Beteiligung. Haupthindernis ist nun die Türkei. Ankara verlangt, dass der Iran – gegen dessen Raketen das Abwehrsystem hauptsächlich errichtet werden soll – in diesem Zusammenhang nicht namentlich genannt wird. Andere Nato-Staaten, auch die USA, wollen jedoch den Iran klar benennen – unter anderem, um klarzustellen, dass die Raketenabwehr eben nicht gegen Russland gerichtet sei.

Welche Rolle spielt das Thema Abrüstung?

Nukleare Abrüstung ist vor allem der deutschen Politik eine Herzensangelegenheit. Bundesaußenminister Guido Westerwelle setzt sich seit Beginn seiner Amtszeit für den Abzug der zwischen Flensburg und Garmisch-Patenkirchen lagernden Atomwaffen ein. Bestärkt fühlt sich der FDP-Chef in seinem Drängen durch das von US-Präsident und Friedensnobelpreisträger Barack Obama ausgegebene Ziel einer atomwaffenfreien Welt bestärkt. Das neue strategische Konzept der Nato geht auch auf die nukleare Abschreckung ein, aber den deutschen Hoffnungen auf eine Festlegung, in absehbarer Zeit ein atomwaffenfreies Bündnis werden zu wollen, erteilt es eine Absage. Innerhalb der Allianz ist es vor allem die Grande Nation Frankreich, die heftigen Widerstand leistet: Der geplante Raketenschirm könne die nukleare Abschreckung allenfalls ergänzen, nicht aber ersetzen, heißt es aus Paris, das nicht zu einem Verzicht auf seine eigenen Atomwaffen bereit ist.

Ein Kompromiss könnte so aussehen, dass man sich auf dem Gipfel darauf verständigt, Obamas „Global Zero“-Ziel einer Welt ohne Atomwaffen zu unterstützen, gleichzeitig aber klarmacht, dass man selbst so lange an Atomwaffen festhalten werde, wie auch andere Staaten noch welche haben. Das allerdings werden derzeit eher mehr als weniger.

Wie geht das Bündnis mit den neuen Gefahren aus dem Internet um?

Hacker, Cracker, Cyberspione, Attacken aus dem Internet, lahmgelegte Kommunikationssysteme, Angriffe auf militärische, staatliche, private wie gewerbliche IT-Infrastrukturen – längst finden Kriege auch in der virtuellen Welt statt. Armeen, Terroristen und Kriminelle legen Websites lahm, kundschaften den Gegner online aus oder sabotieren Versorgungssysteme.

Wenn es nach Generalsekretär Rasmussen geht, sollen Angriffe solcher Art künftig auch den Bündnisfall für die Nato auslösen. „Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass Cyberattacken zu einer neuen Form der dauerhaften Kriegsführung auf niedrigem Niveau geworden sind“, sagte er dem „Wall Street Journal“. Ständige Angriffe auf US-Netzwerke gingen inzwischen von mehr als 100 Staaten aus. Die Nato müsse solche Attacken früher erkennen und zur Quelle zurückverfolgen können. Dafür sei kürzlich eine eigene Nato-Hackerabteilung geschaffen worden.

Vielen geht das allerdings zu weit. Kritiker wollen wissen, welche Angriffe eigentlich einen Gegenschlag rechtfertigen könnten – und wie der dann tatsächlich aussehen würde. Soll er als Gegencyberangriff erfolgen oder mit konventionellen militärischen Waffen? Diskutiert wird auch, ob ein Angriff beispielsweise auf das Bankensystem eines Landes überhaupt ein Fall fürs Militär sei, oder ob die Absicherung nicht vielmehr Sache der betreffenden Bank wäre.

Deutschland jedenfalls lehnt Militärschläge der Nato als Reaktion auf Cyberattacken ab. Es gebe auch andere Antworten als die Ausrufung des Bündnisfalls nach Artikel 5 des Nato-Vertrags, betonte Außenminister Westerwelle in der vergangenen Woche. Er verwies darauf, dass vor dem Artikel 5 im Nordatlantikvertrag der Artikel 4 komme, der im Falle von Streitigkeiten zunächst Beratungen der Nato-Mitglieder vorsieht.

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