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Wird Donald Trump Präsident? Zerbricht Europa? Politische Wahrsager haben Konjunktur.

© dapd

Was bringt uns das Neue Jahr?: Propheten und Prognostiker

Jetzt wissen wieder viele, was kommt. Dabei sind Überraschungen die einzige Konstante in der Politik. Der Staub, den das Leben aufwirbelt, wird auch die Sicht auf 2016 trüben. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Nun ist wieder ihre Zeit. Zu Wort melden sich Prognostiker und Orakologen, Leitartikler, Propheten, Trend- und Zukunftsforscher. Was bringt uns das neue Jahr, 2016? Auf diese Frage müssen Antworten geliefert werden, kluge, tiefsinnige, originelle. Ein bisschen schaurig und besorgt darf’s ruhig klingen. Europa zerbricht, Donald Trump wird Präsident, Krieg zwischen Iran und Saudi-Arabien. Und wenn am Ende des Jahres alles anders war, werden wieder alle genau wissen, warum.

Im Jahre 1926 schrieb Kurt Tucholsky unter einem seiner Pseudonyme – Kaspar Hauser – einen Brief („Gruß nach vorn“), adressiert an „Lieber Leser 1985“. Darin malte er sich eine Begegnung mit einem solchen Leser aus, 59 Jahre später. Einiges liest sich erfrischend aktuell: „Selbstverständlich habt ihr die Frage: ,Völkerbund oder Paneuropa?’ nicht gelöst; Fragen werden ja von der Menschheit nicht gelöst, sondern liegen gelassen. Selbstverständlich habt ihr fürs tägliche Leben dreihundert nichtige Maschinen mehr als wir, und im übrigen seid ihr genau so dumm, genau so klug, genau so wie wir.“

Jawoll, so ist es. Was hat man in den vergangenen Jahren nicht alles lesen müssen! Über die wunderbare Arabellion, den demokratischen Aufbruch in der muslimisch-arabischen Welt; über die Stärke Europas nach der Einigung von Minsk; den Heilsbringer Barack Obama; die stets zaudernde Angela Merkel und ihre risikoscheue Politik der kleinen Schritte; die Piratenpartei als neue Jugendbewegung. Dann schlug die Wirklichkeit zu und widerlegte so ziemlich alle dieser Annahmen.

Es lohnt, die Zeitungen von vor einem Jahr herauszukramen

Politische Prognostik als gehobene Form der Horoskoperei – solche Erfahrung lehrt Bescheidenheit und Offenheit. Ab und zu könnte ein Konjunktiv im Brustton der Überzeugung zu hören sein. Und es sollte mehr Mut aufgebracht werden, Irrtümer einzugestehen und Thesen zu revidieren.

Vielleicht lohnt es, die Zeitungen von vor einem Jahr herauszukramen. Wer hat damals vorausgesehen, dass das große, beherrschende Thema in Deutschland die Flüchtlinge sein würden? Dass die Russen in Syrien eingreifen? Dass ein Klimaschutzabkommen geschlossen wird? Dass Ebola besiegt wird? Dass der islamistische Terror nach Europa zieht? Das neue Jahr begann mit dem Attentat auf die französische Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“. Schon war alles anders. Auch die Aufregung über die NSA-Affäre kühlte merklich ab.

„Soll ich dir erzählen, was die Leute in meinem Zeitdorf bewegt?“, fragt Kurt Tucholsky seinen imaginären Leser des Jahres 1985. „Genf? Shaw-Premiere? Thomas Mann? Das Fernsehen? Eine Stahlinsel im Ozean als Halteplatz für die Flugzeuge? Du bläst auf alles, und der Staub fliegt meterhoch, du kannst gar nichts erkennen vor lauter Staub.“

Der Staub, den das Leben aufwirbelt, wird auch die Sicht auf 2016 trüben. Noch scheint alles klar, berechenbar, im Trend zu liegen. Doch das täuscht. Selbst die Prognostiker ahnen: Abermals wird das Unerwartete geschehen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.

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