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Hintergrund: Was ist das Bürgertum?

Es war ein Thema für Abgesänge, am Rande der Peinlichkeit. Jetzt hat der Hamburger Volksentscheid gezeigt: Es ist noch da. Und es ist prägend.

GIBT ES NOCH EIN BÜRGERTUM?

Der Hamburger Volksentscheid am vergangenen Sonntag hat nicht nur eine Reform gekippt. Er rüttelt auch nachdrücklich an unserem politischen Koordinatensystem. Denn einerseits war er der Erfolg einer dezidiert bürgerlichen Initiative – es waren die gut betuchten Viertel der Hansestadt, die sie getragen haben. Gut und gerne könnte man von einem Aufstand der Elbvororte sprechen, über eine „neue Hambürgerlichkeit“ juxte die FAZ. Andererseits traf die Abstimmung eine politische Klasse, die sich selbst als bürgerlich begreift: Hamburg und seine Parteien, die gemeinsam die Reform getragen hatten, sind das Bürgerlichste, was man in der Bundesrepublik finden kann, die den Senat führende CDU ist eine bürgerliche Partei, die Grünen möchten es sein, und überhaupt gilt das schwarzgrüne Bündnis in der Bundesrepublik heute als der Joker einer Politik, die bürgerlichen Werten eine neue Perspektive geben will.

Um so massiver stellt sich die Frage, ob es die Größe noch gibt, die da im Spiel war, und was sie bedeutet – den Bürger, das bürgerliche Leben, das Bürgertum. Der Begriff meint die Gesellschaftsschicht, die ihren sozialen Ort zwischen dem Adel und Klerus auf der einen Seite, den Arbeitern und Bauern auf der anderen hat. Aber vor allem ist das Bürgertum der Gegenstand einer langen Geschichte, in der es mit denkbar unterschiedlichen Gesichtern auftrat: als Handel und Industrie fördernder Stadtbewohner wie als verspotteter Spießbürger, als ehrgeiziger Unternehmer und als harmloser Biedermann, als Mann des Fortschritts und reaktionärer Verteidiger des Status quo.

Die Frage, ob es sich auf der Höhe der Zeit oder im Niedergang befinde, verfolgt das Bürgertum, solange es existiert – also, wie die Historiker glauben, seit dem frühen Mittelalter. In der Gegenwart mit ihren rapiden zivilisatorischen Veränderungen, stellt sie sich mit besonderer Dringlichkeit. Seit einigen Jahren hat Bürgerlichkeit wieder eine positivere Resonanz gewonnen, von einer neuen Bürgerlichkeit ist seit längerer Zeit die Rede. Spätestens seit dem Umdenken und Umorientieren, das die große Wende von 1989 einleitete, wird dieser Gedanke häufig beschworen und seine Spur da und dort auch aufgespürt – beispielsweise in der Suche nach neuen Werten, im Tribut an alte Formen, in der Distanz zu linker Weltverbesserei wie in der massenhaften Verbreitung der Kataloge des Versandhandels Manufaktum, der alte Wertarbeit in neuer Fertigung präsentiert.

WAS FÜR EINE ROLLE HAT DAS BÜRGERTUM IN DER BUNDESREPUBLIK GESPIELT?

Lange war das Bürgertum vor allem ein Thema für Abgesänge, eine Größe am Rande der Peinlichkeit. Das hat auch mit der deutschen Vergangenheit zu tun. Dem Bürgertum ging in Deutschland das Selbstbewusstsein ab, über das es in den westeuropäischen Gesellschaften verfügte – selbst im 19. Jahrhundert, seiner klassischen Epoche, in der das deutsche Bürgertum seine große Zeit erlebte. Während die Bürger in Frankreich als Citoyen und Bourgeois ihre Rolle spielten, fehlte diesseits des Rheins – so die schmerzliche Einsicht der Nachkriegs-Deutschen – vor allem der Citoyen, der Staatsbürger. Erst recht versagte das deutsche Bürgertum beim Untergang der Weimarer Republik und im Dritten Reich in einem Maße, dass es nach 1945 bis auf die Knochen diskreditiert war.

Dennoch ist das deutsche, genauer: das westdeutsche Bürgertum nach diesem Zusammenbruch erstaunlicherweise wieder auf die Beine gekommen. In den fünfziger Jahren der Bundesrepublik erlebte es mit dem Wirtschaftswunder, der biederen Wohlanständigkeit des Bonner Regierungsbetriebes und dem Vorort-Eigenheim einen unerwarteten Aufschwung. Darüber können der Spott und die Verachtung nicht hinwegtäuschen, die sich später auf diese Zeitspanne richteten – bevor sie, einen Generationssprung darauf, nostalgisch verschönt wurde.

Das gilt nicht zuletzt politisch, denn die Repräsentanten dieser Zeit, von Adenauer bis Erhard und Kohl, waren durchweg bürgerlicher, zumeist kleinbürgerlicher Herkunft. Kein geringerer als der kluge, unvoreingenommene Golo Mann hat geurteilt: Mit Adenauer sei „das deutsche, das westdeutsche Bürgertum zum ersten Male zur Macht“ gekommen. Bis Adenauer abserviert und bald auch das Bürgertum zum wohlfeilen Synonym für das Hinterletzte wurde.

Gerade gegen diese Bürgerlichkeit hat sich die Unruhe der sechziger Jahre, nicht zuletzt die 68-Bewegung aufgelehnt. Es waren die Kinder dieser Aufbau-Generation, die mit der „Tribunalisierung“ (Manfred Hettling) des Bürgertums die deutsche Gesellschaft erschütterten und ihren Leitvorstellungen den Prozess machten. Das ist nicht das letzte Wort in dieser Sache geblieben: Ein nüchterner Sozialhistoriker wie Hans-Ulrich Wehler hat zwei Jahrzehnte später seine Bilanz des deutschen Bürgertums nach 1945 unter den ambivalenten Titel gestellt: „Exitus oder Phönix aus der Asche?“ Er landete übrigens mit seinem Befund eher in der Nähe des Phönix: Man komme, so Wehler, halb unwillig, „um die Anerkennung bürgerlicher Kontinuität und bürgerlichen Aufstiegs nach 1945 nicht herum“.

WIE HAT SICH DAS BÜRGERTUM VERÄNDERT?

Natürlich: Das Bürgertum ist nicht mehr, was es einmal war. Als soziale Schicht, ausgerüstet mit Klassenbewusstsein, Überlegenheitsgefühlen sowie der Verfügung über Besitz und Bildung, hat es ausgedient. Es hat sich aufgelöst in den Entwicklungen der modernen, industriellen Gesellschaft, der Emanzipation, von Individualisierung und Pluralisierung – günstigstenfalls wie der Zucker im Kaffee, im schlechten Fall ohne Spuren. Es ist zu einer historischen Lebensform geworden, die entschwunden ist – fern wie die Kommerzienräte in den Romanen Theodor Fontanes und die Patrizierwelt in Thomas Manns Buddenbrooks.

Aber merkwürdigerweise ist uns noch immer klar, was Bürgerlichkeit ist. Der Verleger Wolf Jobst Siedler hat die Behauptung, dass er in einem bestimmten Zeitraum auf dem Kurfürstendamm keinem Mann mit Krawatte begegnen würde, zum Indikator für den Zustand des Bürgertums, genauer: sein Verschwinden, gemacht. Das war nicht ganz ernst gemeint und sollte vor allem die von ihm immer wieder beklagte Entbürgerlichung Berlins treffen. Aber es lenkt den Blick darauf, dass Bürgerlichkeit sich in bestimmten Attributen zu erkennen gibt. Ein gewisser Kleidungsstandard, die Serviette bei Tisch, die Ausstrahlung von Solidität und Verhaltenssicherheit: schon stellt sich die Assoziation von Bürgerlichkeit ein.

Allerdings gehört zu solch Äußerem die Vermutung eines inneren Zustandes. Was wir als Bürgerlichkeit empfinden, ergibt sich aus der Überzeugung von der Geltung bestimmter Tugenden und Werte – Ordnung und Korrektheit, Beständigkeit, Maßhalten, das Bewusstsein von Aufgaben und Pflichten. Das betrifft nicht nur die große Münze ethischer Maßstäbe. Es kommt auch vor in der kleineren Währung der Alltagsgewohnheiten, sozusagen von der Pünktlichkeit bis zur Pingeligkeit – vielleicht ist es ohne diese Beimischung nicht zu haben. Jedenfalls ist es ein Kodex von Maßstäben, von Normen und Verhaltensweisen, ein Habitus und Lebensstil, der sich als Erwartung und Überzeugung einstellt, wenn von Bürgerlichkeit die Rede ist.

WO FINDET MAN BÜRGERLICHKEIT?

Bürgerlichkeit mag mit dem Bürgertum im klassischen Sinne kaum noch etwas zu tun haben. Aber es trägt doch etwas von dieser historisch gewordenen Erscheinung hinein in die Gegenwart mit ihren gänzlich veränderten Bedingungen. Nur, dass da keine verbindliche Lebensform mehr ist, sondern – wie der Journalist Jens Bisky formuliert hat – „ein Lifestyle-Phänomen unter anderen“: Man kann bürgerlich leben, wenn man es will. Und es ändert fast nichts daran, dass es oft eine Bürgerlichkeit als Wille und Vorstellung ist: getragen zum nicht geringen Teil von dem Wunsch, dass es bürgerliches Leben geben möge, geben müsse – eingeschlossen die Klage darüber, dass das Bürgertum vergangen sei.

Das ist das Feld, auf dem die neue Bürgerlichkeit ihren Ort hat und ihre Berechtigung gewinnt. An ihr mag vieles modisches Gerede und höhere Renommisterei sein, aber nicht nur der Erfolg der Hamburger Bürgerinitiative belegt, dass sie kein leerer Wahn ist. Im Wandel unseres zivilen Zusammenlebens sind ihre Spuren unübersehbar. Woher käme sonst das entschiedene Engagement für Erziehungsfragen, das erbitterte Ringen um den Übergang im Schulsystem und die Nachmittage füllenden Programme für die Kinder? Woher der gewachsene Wunsch, dem alltäglichen Leben eine Façon zu geben – mit der designerhaften Gestaltung der eigenen Häuslichkeit, der Wiederannäherung an die Rituale von Kirche und Gesellschaft oder dem Kult der Esskultur, der Star-Köche zu den öffentlichen Heroen unserer Gesellschaft macht und Jamie Oliver zum Bestsellerautor? Und woher rührt die gestiegene Bereitschaft zur ehrenamtlichen Beteiligung – die Bürgerinitiativen für alles und jedes, die Freundeskreise, die heute jedes Theater und jedes Museum hat, die zunehmende Zahl der Stiftungen?

Das alles darf man nicht überschätzen, aber es hat es vor ein, zwei Generationen so nicht gegeben. Und offenkundig ist auch, was in dieser Veränderung steckt, sozusagen als großer, gesellschaftsdurchdringender politisch-kultureller Nenner: Es ist die Rücknahme der sechziger und siebziger Jahre. Diese neue Bürgerlichkeit ist die Folge der vielen kleinen Konversionen, mit denen die beweglichen Schichten der Gesellschaft die Kulturrevolution von einst hinter sich gelassen haben. War der lange Abschied vom Bürgertum das Vorzeichen der Nachkriegs-Bundesrepublik, so ist der Abschied von den 68ern und die Suche nach einer zeitgemäßen Bürgerlichkeit ihr neues Prägezeichen.

Zurück zur „Hambürgerlichkeit“, die am vergangenen Wochenende zum Ereignis wurde. Sie ist zumindest eine Lektion über Bürgerlichkeit, ihren Formwandel und auch ihre Dauerhaftigkeit. Denn adaptierten die Streiter gegen die Reformpläne des schwarz-grünen Senats mit ihrer Bürgerinitiative nicht eine klassische Form alternativen politischen Verhaltens? Und entspricht das Bestehen auf erfahrenen Strukturen gegenüber ihrer Infragestellung nicht einem Muster bürgerlichen Verhaltens? Die Abwehr von umwälzenden Entwicklungen, das Bestehen auf dem Bewährten hat der Historiker Ernst Nolte einmal den „bürgerlichen Grundaffekt“ der Bundesrepublik genannt.

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