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Uralt und imposant: das Bremer Rathaus

© dpa

Landtagswahl: Wer ist Bremen?

Werder, Weser, Waterkant. Kinderfreundliche Parks statt Entertainment. Zurückhaltung als Passion. Diese Stadt ist geradezu exzentrisch normal. Und heute wird gewählt.

Von Michael Schmidt

Ja, wenn das der Bremer doch selbst so genau wüsste. Ist Bremen überhaupt eine Stadt? Verglichen mit Hamburg, Berlin, München muss man wohl sagen: eher nicht. Es fehlen der Lärm, das Chaos, der Wille, anders, besonders, einzigartig zu sein, architektonisch und kulturell herausragende Marksteine zu setzen. Bremen hat keine Weserphilharmonie, keine Museumsinsel, keinen Broadway. Ist Bremen deshalb ein Dorf? Ein Dorf mit Straßenbahn, wie Spötter sagen? Dafür ist es dann doch zu groß, zu welthaltig und zu lebendig.

WAS MACHT BREMEN AUS?

Das gotische Rathaus mit seiner Weserrenaissancefassade gehört seit 2004 zum Unesco-Weltkulturerbe; in Ostertor und Steintor, „dem Viertel“, treffen, wie in Berlins Prenzlberg oder Hamburgs Schanze, Subkultur und Underground auf schicke Läden und Boutiquen; und wie jede Stadt, die etwas auf sich hält, hat auch Bremen sein Kriminalitäts- und Gewaltproblem: Seit geraumer Zeit schon beschäftigt ein Rocker-Bandenkrieg zwischen „Hell’s Angels“ und „Mongols“ Politik und Polizei an der Weser.

WER ALSO IST BREMEN, UND WENN JA WIE VIELE?

Diese letzte Frage lässt sich eindeutig beantworten: zwei. Bremen und Bremerhaven. Hier wohnen 550 000, dort 115 000 Menschen. Die beiden sind wie Schwestern: Sie streiten sich, beneiden sich, stoßen sich ab – und sie lieben und stützen sich, halten, wenn es drauf ankommt, zusammen. Was sie zusammenhält, ist eine Art ideenpolitischer Überbau, eine zeitgenössische Variante der aufklärerischen Parole aus den Tagen der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Bremen ist das einzige westdeutsche Bundesland, in dem die SPD seit Landesgründung ununterbrochen die stärkste Partei ist und an jeder Regierung beteiligt war. Das sagt vielleicht mehr über die Eigenart der bremischen Seele – falls es so etwas gibt – als historische Folianten und soziologische Studien.

Allem an der Weser liegt eine Art sozialdemokratisches Welt- und Wirklichkeitsverständnis zugrunde. Konsens statt Konfrontation, Ausgleich, Einbindung, soziale Gerechtigkeit als Maßstab allen Handelns. Vielleicht ist’s kein Zufall, dass das Grimm’sche Märchen von den Stadtmusikanten hier spielt: Von ihren Besitzern als alt und unnütz verstoßen, fliehen Hahn, Katze, Hund und Esel. „Etwas besseres als den Tod findest du überall.“ Sie schließen sich zusammen, brechen auf, bieten dem Bösen gemeinsam die Stirn – und schaffen sich ein neues Heim. Sozialutopie pur.

Der Bremer kann ein Sturkopp sein, er selbst nennt das freiheitsliebend: Bremen war 1783 einer der ersten Staaten, der die USA anerkannte und 1794 ein US-Konsulat einrichtete; in Bremen, wo nie Könige oder Fürsten regierten, haben immer die Bürger selbst ihre Stadt verwaltet. Sie schätzen die Eigenständigkeit und finden, als Gemeinde und Gemeinwesen habe Bremen genau die richtige, weil nämlich gerade noch überschaubare Größe. Die meisten der politischen und wirtschaftlichen Akteure kennen einander denn auch. Man fühlt sich als Familie. Oft fahren Regierende und Senatoren, Banker und Kaufleute mit dem Fahrrad über das Marktplatzpflaster und grüßen. Henning „der Umarmer“ Scherf, Bürgermeister von 1995 bis 2005, war durchaus gefürchtet: Kaum ein Flaneur und Einkaufsbummler war sicher vor Herzlichkeitsattacken des hochaufgeschossenen Mannes, der es mit ausgebreiteten Armen auf eine Flügelspannweite von gefühlt mindestens drei Metern brachte.

WAS IST DEM BREMER WICHTIG?

Treue, Verlässlichkeit und eine gewisse protestantische Pflicht- und Arbeitsethik. All das sieht man verkörpert in der Bremer Lichtgestalt schlechthin: Thomas Schaaf, Trainer des Fußball-Bundesligisten Werder Bremen, Mitglied seit 1972 und ganz offensichtlich bemüht, den Titel des Vereinsliedes „Lebenslang Grün-Weiß“ für sich persönlich Wirklichkeit werden zu lassen. Schaafs Gelassenheit ist bremischer Stil: Ob Sonne oder Schietwetter – ein Bremer bewahrt Haltung. Schaafs Ein-Wort-Interviewantworten, deren philosophischer Tiefsinn im Rest der rastlos brabbelnden Republik nur allzu oft verkannt wird, verbinden sich aufs Schönste mit einer den Bremern seit jeher eigenen Sprachökonomie. Konsequent verschlucken sie die letzte „er“- und „en“-Silbe. So wird der Bremer zum Einwohner einer Großstadt mit vier Buchstaben: Brem. Schaafs demonstrative Bescheidenheit schließlich nimmt die Hanseaten für ihn ein, denn das ist, was und wie sie’s mögen: eher klein als klotzig, eher ruhig als auftrumpfend. Anders gesagt: Allemal zieht der Bremer den kinder- und familienfreundlichen Rhododendronpark dem Versuch vor, mit Projekten wie dem „Space-Park“ den Anschluss an die Entertainment-Moderne zu finden – der endete wegen Besuchermangels als millionenschwere Investitionsruine. Vielleicht ist es das, was den Bremer am treffendsten kennzeichnet: eine geradezu exzentrische Normalität in allem Tun und Lassen.

WOVON LEBT DER BREMER?

Kulinarisch von Grünkohl und Pinkel, Butterkuchen und Beck’s-Bier. Nicht alle Tage und nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Grünkohl und Kuchen sind optional – ohne ein „gepflegtes Pils“ aber geht es nicht. Mentalitätsmäßig lebt der Bremer von der Erinnerung an und der Hoffnung auf bessere Zeiten. Solange die auf sich warten lassen, hält er sich an den Eventkalender: Eiswette, Sechstagerennen, Schaffermahl, Musikschau der Nationen, Freimarkt und, wenn es irgend geht, Deutsche Meisterschaft, DFB-Pokal, Champions League mit dem SVW. Diese Saison ging’s nicht.

Wirtschaftlich lebt die Stadt im Wesentlichen von Daimler, EADS/Airbus und Kellogg’s. Zwar fiel Bremen beim Pisa-Vergleichstest krachend durch, dafür hat sich die einst als „rote Kaderschmiede“ geschmähte Universität gründlichst gewandelt und zusammen mit einer ganzen Handvoll renommierter Forschungseinrichtungen Bremen zu einem veritablen Wissenschaftsstandort gemacht.

WIE IST DAS VERHÄLTNIS ZU HAMBURG?

Konkurrenz, Wettbewerb, mitfühlende Missgunst. Vor 20, 30 Jahren riss die Werftenkrise die Hafenstädte in einen Abwärtsstrudel. Von einst 75 000 Arbeitsplätzen Mitte der 70er blieben Bremen ganze 1500. Inzwischen hat die Hafenwirtschaft die Werften als wichtigsten Wirtschaftsfaktor abgelöst. Aber: Die Containerschiffe werden immer größer. Viele sind bereits zu groß, um die Weser hinaufzufahren. Künftig werden sie sogar zu groß für Bremerhaven sein. Und wer profitiert? Hamburg. Ausgerechnet jene etwas hochnäsige Konkurrentin, die schon in alten Hanse-Tagen die Nase vorn hatte. Die, während Bremen im 19. Jahrhundert enorme Kosten für den Seezugang aufbringen, 1827 Bremerhaven als eigenständigen Seehafen überhaupt erst einmal gründen musste, alle Energie in den Ausbau der eigenen Infrastruktur stecken konnte. Bis heute gilt: Bremen schrumpft, Hamburg wächst. Bremen buhlt um Touristen, Hamburg laufen sie zu. Da der HSV am Ende dieser Saison auch noch vor Werder in der Tabelle steht, ist Bremen nur noch in einer Kategorie spitze: bei der Arbeitslosigkeit. 11,8 Prozent in Bremen, 16,8 in Bremerhaven, das ist der traurige Stand der Arbeitslosenquote im April 2011. Das Land hat 16 Milliarden Euro Schulden, mit 24 196 pro Einwohner die höchste Pro-Kopf-Verschuldung aller Länder, und zudem die höchsten Sozialhilfeausgaben pro Kopf mit 445 Euro.

Tatsächlich also lebt der Bremer auf Pump, von Krediten, und mit Geld aus dem Länderfinanzausgleich. Aber das Land auflösen? Bremen als Teil von Niedersachsen oder gar als Teil eines Nordstaats aus Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern? Undenkbar.

WELCHE BERÜHMTEN PERSÖNLICHKEITEN KOMMEN AUS BREMEN?

Als echte Exportschlager erwiesen sich diese gebürtigen Bremer: Claus Peymann begeistert als Theaterregisseur Besucher und nervt mit polternden Ein- und Auslassungen Kritiker, erst an der Burg in Wien, jetzt am Berliner Ensemble. Hans-Joachim Kulenkampff erklärte den Deutschen, was ein Quizmaster ist. Und James Last, der Karajan des kleinen Mannes, Erfinder des orchestralen Happy Sounds, bringt noch heute, 82-jährig, wo immer er auftritt, die Welt musikalisch ein bisschen in Ordnung.

Die meisten berühmten Bremer aber sind gar keine. Roland (736–778), Wahrzeichen der Stadt und in Stein gemeißelter Schutzpatron, starb noch vor der ersten schriftlichen Erwähnung Bremens im Jahr 782 und war überhaupt mehr westwärts unterwegs. Die Stadtmusikanten richteten sich in einer Räuberhöhle ein und erreichten Bremen nie, ja in der Urfassung des Märchens taucht der Name der Stadt nicht einmal auf. Und ein Bremer mit Migrationshintergrund ist leider auch Thomas Schaaf, geboren 1961 in: Mannheim. Da muss dem Schicksal ein Fehler unterlaufen sein.

WAS ÄNDERT SICH IN UND FÜR BREMEN DURCH DIE LANDTAGSWAHL?

Ganz ehrlich? – Vermutlich nichts.

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