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50 Jahre Mauerbau: Wie Berlin den Bau der Mauer erlebte

Die Trennung erfolgte am frühen Morgen. Der 13. August 1961 überraschte viele und riss tiefe Wunden in die Stadt. Doch der Tag war auch ein Anfang.

Der 13. August 1961 „war ein warmer Sommertag“ lautet der fast idyllische erste Satz von Willy Brandts Erinnerung an den Mauerbau. Doch was der damalige Berliner Regierende Bürgermeister beschreibt, ist die Erfahrung eines Schocks. Der Begriff bedeutet laut Brockhaus dem Wortsinn nach „Stoß, Schlag, Erstarrung“, psychologisch den „Zustand nach plötzlich auftretenden, unerwarteten und katastrophenartigen Ereignissen, der mit Orientierungslosigkeit, Fassungslosigkeit, starker Erregung oder Erstarrung einhergeht“. Der Mauerbau war beides: Er traf Berlin und die Welt unerwartet und stieß die Stadt in einen Zustand radikaler Ratlosigkeit. Er schuf, wie Egon Bahr formulierte, „eine Zeitrechnung vor und nach der Mauer“. Er bildete für die deutsche Nachkriegsgeschichte die entscheidende Zäsur – nicht zuletzt, weil er ein Ende war, das staunenswerterweise auch zu einem Anfang wurde.

Dass alle vom Mauerbau überrascht wurden, hat seinen Grund am Ende wohl doch darin, dass sich niemand diese Monstrosität wirklich vorstellen konnte. Dabei standen die Zeichen in der Ost-West-Politik auf Sturm, seitdem der sowjetische Parteichef Chruschtschow im November 1958 ultimativ die Umwandlung West-Berlins in eine „freie Stadt“ gefordert und damit dessen Existenz infrage gestellt hatte. Noch am Vorabend hatte Brandt bei einer Rede in Nürnberg die Zuspitzung der Situation beschworen. Der Osten bereite „einen Anschlag auf unser Volk“ vor – zum ersten Mal waren an diesem Tage innerhalb von 24 Stunden 2500 Menschen nach West-Berlin geflohen. Doch als am frühen Morgen die Absperrung einsetzte – 2 Uhr 15 begann das Hämmern der Presslufthämmer in der Ebert-Straße, notierte der „Tagesspiegel“ akribisch – war niemand vorbereitet. Brandt hat später für diesen Tag das Bild gefunden: Man habe einen Vorhang weggezogen, und es zeigte sich, die Bühne war leer. Nirgendwo verkörperte sich diese bittere Erfahrung so drastisch wie in West-Berlin. Und kaum jemand war an diesem Morgen einsamer als der Regierende Bürgermeister und sein Pressesprecher in ihren Büros im Schöneberger Rathaus. Der eine aus dem Nachtzug in Hannover geholt, der andere aus München früh in die Stadt eingeflogen, stehen beide vor der großen Krise der Stadt. Die Alliierten, ihre eigentlichen Herren, sind unfähig zu einer Reaktion: „Die Scheißer machen nun wenigstens Patrouillen an die Sektorengrenze, damit die Berliner nicht denken, sie sind schon allein“, sagt Brandt, als er wütend vom Gespräch mit den alliierten Kommandanten zurückkehrt. 24 Stunden dauert es bis zu einem Protest beim sowjetischen Kommandanten in Ost-Berlin. 72 Stunden bis zu Reaktionen aus den westlichen Hauptstädten.

Bonn ist nicht hilfreicher. Außenminister von Brentano erklärt in einem Telefongespräch, man müsse jetzt noch enger zusammenarbeiten. Vom Bundeskanzler gibt es nur eine magere Agentur-Äußerung, dafür am Tag darauf die infame Formulierung von „Herrn Brandt alias Frahm“, die dessen uneheliche Geburt und seine Emigration zur Wahlkampfmunition macht. Gegenüber dem sowjetischen Botschafter erklärt er später abwiegelnd, die Lage dürfe nicht verschärft werden. Zu Recht ist der Titel der „Bild“-Zeitung legendär geworden. Er fragt, stacheldrahtumwunden: „Der Osten handelt – was tut der Westen?“, und stellt fest: „Der Westen tut nichts! US-Präsident Kennedy schweigt (…) Macmillan geht auf die Jagd (…) Und Adenauer schimpft auf Brandt“.

Wie Willy Brandts neue Ostpolitik entstand, lesen Sie auf Seite 2.

Man kann sich die Lage, mit der die Stadtführung konfrontiert war, nicht dramatisch genug vorstellen. Der 13.August zerteilt mit einem Schlag und zugleich tausendfach den lebendigen Organismus, der die Stadt noch immer ist, ihren gegensätzlichen politischen Ordnungen zum Trotz. Die Schicksale dieses Tages und der Tage danach beschreiben es: der Weißenseer, der den Abend in Zehlendorf verbracht hat, und nicht mehr zurück kann; Eltern in Pankow getrennt von den Kindern in Wilmersdorf; rund 50 000 Ost-Berliner Grenzgänger ausgesperrt von ihren Arbeitsplätzen im Westen. Dann die Bilder, die millionenfach um die Welt gehen: die ohnmächtig protestierenden Berliner, vor deren Augen die Absperrungen hochgezogen werden, die Familien und Freunde, die sich über die Mauer zuwinken. Dazu der Hintergrund der händeringenden Dauerklage: Sie können uns ja nicht allein lassen. Sie können uns doch nicht abschreiben. Sie müssen uns doch helfen.

Die Stadt brodelt vor Wut und Zorn. Sie fühlt sich verraten und verkauft. Das stellt Willy Brandt und den Senat vor die Aufgabe, die hocherregte, zwischen Verzweiflung und Trotz pendelnde Stimmung in der Stadt irgendwie vor dem Explodieren zu bewahren. Ein albtraumhaftes Dilemma, gegen das nur die leidenschaftliche Rede, der moralische Appell, gesetzt werden kann. Es ist die große Stunde Brandts, denn er verfügt über beides. Er nennt die Mauer „die Sperrwand eines Konzentrationslagers“, er bittet die Menschen im Ostteil: „Lassen Sie sich nicht fortreißen, so stark und berechtigt die Erbitterung auch sein mag.“ Seine Rede vor dem Rathaus Schöneberg, drei Tage nach dem Mauerbau, wird zur Probe für die Widerstandskraft der Stadt. 250 000 Menschen füllen den Platz bis in die Nebenstraßen hinein. Egon Bahr hat sich erinnert, wie beim Diktieren der Rede schon „das summende Geräusch“ der Menge ins Rathaus drang und er sich fragte, ob der gewagte Befriedungsversuch an der wunden Seele der Berliner gelingen würde.

Aber Brandt schafft es, die Stimmung in der Stadt in ihrem labilen Gleichgewicht zu halten. Erst ein knappes Jahr später, beim Tod des Arbeiters Peter Fechter am 17. August 1962, droht sie zu kippen. Der 18-Jährige ist nicht der erste Mauertote, aber der erste, der gleichsam öffentlich stirbt – eine Dreiviertelstunde lang, mitten in der Stadt, in der Zimmerstraße, ein Steinwurf entfernt von Checkpoint Charlie, unter den Augen einer hilflos protestierenden Menschenmenge und einer amerikanischen Militärpolizei, die die Szene mit „not our problem“ kommentiert. Drei Tage lang hat Brandt die Lage nicht mehr völlig im Griff. Unruhen richten sich nicht nur gegen die DDR-Grenzsoldaten, sondern auch gegen die Alliierten, und der Senat sieht sich gezwungen, die Mauer gegen West-Berliner Demonstranten zu verteidigen, die dazu ansetzen, sie zu stürmen.

Aber der Mauerbau enthält auch eine andere Botschaft. Das macht der Brief klar, mit dem der amerikanische Präsident Kennedy das Schreiben beantwortet, mit dem Brandt ihn zu energischen Reaktionen aufgefordert hat. Kennedy weist seine Erwartungen kühl zurück: keine Aktionen, keine Mobilisierung der UNO. Der Mauerbau zeigt sein doppeltes Gesicht. Für die Deutschen besiegelte er mit schmerzlicher Endgültigkeit die Teilung, die bis dahin von der Hoffnung relativiert wurde, vorläufig zu sein. Für die Amerikaner bedeutete er das Ende der von Chruschtschow vom Zaun gebrochenen Berlin-Krise. Die bald drei Jahre dauernde Kraftprobe hatte die Welt gefährlich nahe an den Rand eines Krieges gebracht. In diesem Licht erscheint der Mauerbau als defensive Operation, mit der die Sowjetunion sichtbar machte, dass sie auf weitere Attacken gegen West-Berlin verzichtete. „Was uns in Berlin als grausamer Einschnitt erschien“, so Brandt diplomatisch, „mag sich für andere fast als Erleichterung dargestellt haben“.

Die "Politik der kleinen Schritte" begann im eigenen Kopf. Lesen Sie weiter auf Seite 3.

Es liegt auf der Hand, dass dies nicht die Sicht der Deutschen und erst recht nicht der Berliner sein konnte. Und es dauerte etliche Zeit und kostete den Preis eines tiefen Umdenkens, bis die Erkenntnis reifte, dass in dem Ende, das der Mauerbau bedeutete, auch ein Anfang stecken konnte. Es war das Ausmaß der Erschütterung, das am Ende eine paradoxe Erkenntnis gebar: Nur über die Hinnahme der Realitäten kann ein Weg zu ihrer Veränderung führen. Die Politik der kleinen Schritte – wie die neue Politik zunächst hieß – begann, so Egon Bahr, „im eigenen Kopf“. Es waren jene Politiker um Brandt, die den Mauerbau am nächsten erlebt hatten, Bahr, Albertz, Schütz, die einen Weg aus dem Dilemma suchten und fanden. In langen Gesprächen vollzog diese „Handvoll Leute im Schöneberger Rathaus“ – wie Egon Bahr sagte – , auch spöttisch die „heilige Familie“ genannt, die Transformation einer Katastrophe in das Konzept der neuen Ostpolitik. An die Stelle der Forderung „Die Mauer muss weg“ trat langsam „Die Mauer muss durchlässiger werden“. Es kennzeichnete diese Politik, dass sie – wie Peter Bender, ihr Geschichtsschreiber, befand – „nicht in Bonn“ entstand, „sondern dort, wo die Spaltung am meisten schmerzte, in Berlin“.

Etwas von der Unmuts-Wucht, die hinter dem Umdenken steht, ist den Debatten abzulesen, die der Mauerbau in den folgenden Wochen in Zeitungen, unter Publizisten, Schriftstellern und Politikern entzündet. Die ganze Nachkriegszeit und ihre Konzepte werden auf die Waage gelegt und für zu leicht befunden. Eine tiefe Zerknirschung geht durch die intellektuellen Quartiere der Republik und mündet in die Suche nach Auswegen. Fünf Tage nach dem Mauerbau veröffentlicht Golo Mann seinen Aufsatz: „Das Ende der Bonner Illusionen“, der für Verhandlungen plädiert. „Berlin und keine Illusion“ heißt ein Sammelband, der zeitgenössische Publizisten von Fritz René Allemann bis zu Fritz Erler, von Margret Boveri bis zu Gerhard Schöneberger versammelt. Ein Gefühl bereitet sich aus, das den Boden für den großen Wechsel vorbereitet.

Bei einer Tagung im Juli 1963 in der Evangelischen Akademie Tutzing erreichte dieses Umdenken die breite Öffentlichkeit. In einer Rede entwarf Egon Bahr ein Politikkonzept, das sich auf eine Hinnahme der DDR mit dem Ziel einer allmählichen „Auflockerung der Grenzen und der Mauer“ richtete. Sie sollte eigentlich nur die Rede begleiten, die Brandt auf derselben Veranstaltung hielt und mit der er Überlegungen aufgriff, die er unter dem Titel: „Koexistenz: Das unausweichliche Wagnis“ im Herbst 1962 in Amerika gehalten hatte. Aber das Signal- und Reizwort vom „Wandel durch Annäherung“, mit dem Bahr seine Ausführungen krönte, machte seine Rede zum Schlüsseldokument einer neuen Politik. Das Aufsehen, das die Rede erzielte, die Auseinandersetzungen, die sie auslöste, zeigte, dass sie durchaus noch quer zum Mainstream der damaligen Debatten in der Bundesrepublik lag. Am besten hat ihr Potenzial wohl die Gegner-Seite, die DDR, erkannt - „Aggression auf Filzlatschen“ nannte sie ihr Außenminister Winzer, der die subversiven Möglichkeiten der neuen Politik spürte. Die CDU sah in ihr vor allem die Gefahr, dass die Berlin-Positionen aufgeweicht werden könnten. Aber auch in der eigenen Partei stieß die neue Politik auf Widerstände. Der um den von ihm hochstrategisch gesteuerten Parteikurs besorgte Herbert Wehner sprach wortspielerisch von „ba(h)rem Unsinn“, und in der Berliner Partei musste das neue Denken langsam, gegen vielfältiges Widerstreben durchgesetzt werden.

Tatsächlich war der Anfang, der aus dem Mauerbau entstand, alles andere als ein Selbstläufer. Er war ein schwieriges, von vielen Bedingungen und Umständen mitbestimmtes Unterfangen. Es gab keine Planskizze, die einen direkten Weg zum Ziel – weg von der geteilten Stadt – gezeigt hätte. Stattdessen das Zusammenwirken von Personen und Situationen, von dem fortwirkenden Ereignis des Mauerbaus, der wahrhaftig ein „Tag der Wahrheit“ war, und der Entschlossenheit, sich nicht damit abzufinden. „Historiker haben es einfach, nachträglich herauszufinden und zu belegen, wie aus der Mauer das Konzept der Ostpolitik wuchs“, schrieb Egon Bahr in seinen Erinnerungen. „Die Handelnden wussten das noch nicht“.

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