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Zu wenig für arme Kinder? Die Opposition teilt die UN-Kritik am deutschen Sozialstaat.

© dpa

Reaktionen auf UN-Bericht: Zwischen Schande und Schönreden

Die UN üben scharfe Kritik an der deutschen Sozialpolitik – die Regierung aber will nichts falsch gemacht haben. Laut Attac trifft die Kritik der Vereinten Nationen ins Schwarze.

Von Matthias Meisner

Berlin - Für die Opposition im Bundestag ist es eine Steilvorlage, die Bundesregierung dagegen ist enttäuscht – gegensätzlich fallen die Kommentare zum jüngsten Staatenbericht der Vereinten Nationen aus, der vor allem der Wirtschafts- und Sozialpolitik in Deutschland ein ausgesprochen schlechtes Zeugnis ausstellt. „Es ist eine Schande, dass sich ein reiches Land wie Deutschland von den UN zu Recht diesen Spiegel vorhalten lassen muss“, sagte der SPD-Sozialpolitiker Ottmar Schreiner am Mittwoch dem Tagesspiegel.

Der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der UN hatte sich im Mai auf einer Tagung in Genf mit dem Staatenbericht zu Deutschland befasst. Die in englischer Sprache veröffentlichte Stellungnahme fand anschließend in der Öffentlichkeit praktisch keine Beachtung. Die Bundesregierung sah über Wochen keine Notwendigkeit, sich zu möglichen politischen und rechtlichen Konsequenzen und fälligen Maßnahmen zu äußern. Schließlich handele es sich bei den UN-Bemerkungen um eine „vorläufige Fassung“, die „noch redaktionell überarbeitet werden“ müsse.

Nachdem der Tagesspiegel ausführlich über zentrale Kritikpunkte der UN berichtete – von weitreichender Armut in Deutschland über die Diskriminierung von Migranten bis zum Pflegenotstand –, sah sich das Bundesarbeitsministerium zu einer Kehrtwende veranlasst. Am Mittwoch erklärte Ministeriumssprecherin Christina Wendt, die UN-Kritik sei „in weiten Teilen nicht nachvollziehbar und auch nicht durch wissenschaftliche Fakten belegt“. Deutschland habe in den vergangenen Jahren auch im Sozialbereich eine positive Entwicklung gemacht, „die weltweit hoch anerkannt ist“. Es sei „schade, dass der UN-Unterausschuss für die zentralen Kritikpunkte weder wissenschaftlich valide Datengrundlagen benennt, noch Fakten aus der umfangreichen Stellungnahme der Bundesregierung im Bericht berücksichtigt“.

Oppositionspolitiker zogen andere Schlussfolgerungen. Linksparteichef Klaus Ernst forderte einen „Armuts-Tüv“ für die Sozialsysteme, mit dem ermittelt werden sollte, „ob diese wirklich Armut verhindern oder am Ende zur Vergrößerung der Armut führen“. Linken-Fraktionsgeschäftsführerin Dagmar Enkelmann nannte die Haltung der Bundesregierung skandalös – „Hände in den Schoß legen und abwarten“. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Strengmann- Kuhn, selbst Armutsforscher, sagte dem Tagesspiegel, er rate der Bundesregierung, den UN-Bericht „sehr ernst“ zu nehmen. Das Recht auf soziale Sicherung sei ein Menschenrecht – bestimmte Bevölkerungsgruppen auch in Deutschland würden ihr ganzes Leben unter Menschenrechtsverletzungen leiden. Sein Fraktionskollege Matthias Kurth sagte, der UN-Ausschuss lege „in außergewöhnlich scharfer Form“ die entscheidende Schwäche des deutschen Sozialstaats offen: „Ganze Personengruppen sind von Zugängen sowohl zur Gesellschaft als auch zu sozialer Sicherung ausgeschlossen.“ Der SPD-Abgeordnete Schreiner machte die Verbreiterung und Vertiefung des Niedriglohnsektors als wesentliche Ursache für Armut in Deutschland aus. Diese potenziere die Gefahr von Altersarmut. Die UN hätten „den Finger in die richtige Wunde gelegt“.

Lob für die UN kam auch von Nichtregierungsorganisationen. Das Netzwerk Attac, das selbst eine Stellungnahme zum Staatenbericht abgegeben hatte, sagte, die Vereinten Nationen hätten mit ihrer Kritik am deutschen Sozialsystem „genau ins Schwarze getroffen“. Der amtierende Generalsekretär von Amnesty International, Wolfgang Grenz, begrüßte die Kritik an den unzureichenden Leistungen für Asylbewerber, die ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht sichern würden. Grenz sagte dem Tagesspiegel, auch die Diskriminierung der Kinder von Asylbewerbern, die weniger Leistungen erhalten würden als Kinder von Hartz-IV-Empfängern, müsse beendet werden.

Deutschland war im Rahmen des üblichen Überprüfungsverfahrens Anfang Mai in Genf angehört worden. Überprüft wurde die Bundesrepublik dabei auch von vielen Entwicklungs- und Schwellenländern: Kamerun, Ägypten, Costa Rica, China, Indien, Algerien, Ecuador, Weißrussland und Kolumbien.

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