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Sport: Den Fußball umgebracht

Die WM-Kritik eines italienischen Reporters

Es ist wie in Agatha Christies „Mord im Orientexpress“: Der Fußball ist in Deutschland von 32 Mördern umgebracht worden: Jeder stach einmal auf den Ball ein, der letzte Stich war der italienische. Wir sprechen hier von Fußball in puncto technischer Qualität; was Gefühle, Leidenschaft und Einsatz angeht, hat Deutschland zweifellos eine wunderbare Show geliefert – vor allem für Italien: Grazie! Dies war in Organisation und Atmosphäre die vielleicht schönste der letzten Weltmeisterschaften. Das Spiel dagegen: Wenige Champions, sehr wenige junge Talente, kaum Performance, Spiele, bei denen nur der Kampfgeist begeisterte, ein Triumph der Verteidiger. Am Schluss hat, zu Recht, die beste Verteidigung gewonnen, die nur zwei Tore kassierte, ein Eigentor und einen Elfmeter (der keiner war). Italien bot eine modernere Version des berüchtigten Catenaccio, aber alle anderen Mannschaften versuchten es genau damit, allerdings ohne dass sie das Azzurri-Original erreichten, Frankreich und Deutschland eingeschlossen. Dies war eine WM, die taktisch genau das ausdrückte, was Fußball in jeder Partie aller Meisterschaften ist. Italien hat also niemandem den Sieg gestohlen.

Am Sonntagabend haben 28 Millionen Italiener vor den Fernsehern gelitten und danach auf den Plätzen und Straßen gefeiert. So verschieden sich Italiener und Deutsche fühlen mögen, das haben sie beide erlebt: eine Gelegenheit zum Stolz auf eine Flagge, die in der Welt nicht viel Respekt genießt, sich als Sieger zu fühlen, während der Alltag uns täglich daran erinnert, dass unsere Wirtschaft immer mehr kriselt, wenigstens einen Abend lang vereint zu sein, ohne dass uns die Zugehörigkeit zu einer Stadt, einem Land oder einer Mannschaft daran hinderte. Alle haben Materazzi die Daumen gedrückt, dabei ist er in allen italienischen Stadien der verhassteste und meistbeleidigte Spieler – Wunder einer WM. Italien ist in millionenfache feindliche Wirklichkeiten zerbröselt. Unsere große Koalition war wenigstens für einen Abend Wirklichkeit, rings um einen Fußballplatz.

Italiens Fußball hat in seinem traurigsten Moment triumphiert und das ist kein Zufall. Wir alle wissen jetzt zuverlässig, was immer vermutet, gesagt und geschrieben wurde, ohne dass wir gerichtsfeste Beweise dafür hatten: Das System ist verrottet. Die Italiener, das sollte man wissen, sind die Ersten, die sich zutiefst dafür schämen, was alles aufgedeckt wurde und die Ersten, die wütend über die sind, die ihren Traum und ihre Gefühle betrogen haben. Und alle, auch viele Fans von Juventus und anderen beteiligten Vereinen, die nicht blind sind, haben nach dem Triumph in Deutschland Angst vor einer Art vorauseilender Amnestie, in der das Klima freundlicher und die Urteile milder ausfallen könnten. Italien will das nicht, glaubt uns das. Wir wollen, wie man bei uns sagt, nicht Salzgebäck und ein Gläschen, sondern harte Strafen.

Die Spieler sind noch der intakteste Teil dieses Systems und Opfer wie die Fans. Der Riesenwunsch nach einem Zeichen – auch nach den unfairen Pfiffen im Olympiastadion, nachdem Zidane vom Platz musste – machte sie zu einer Mannschaft von außergewöhnlicher moralischer Kraft. Das hat den großen Unterschied bei dieser Weltmeisterschaft gemacht, deren Fußball technisch nur noch in Millimetern Unterschiede kennt.

Emilio Marrese schreibt für seine Zeitung „La Repubblica“ über die WM. Diesen Text hat Andrea Dernbach übersetzt.

Emilio Marrese

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