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© Teuffel

DER 35. MARATHON IN BERLIN: Glücklich überholt werden

Was Laufen bewegen kann: Klaus-Dieter Knapp darf am Sonntag schon vor dem Feld starten - damit er trotz seiner Lähmung rechtzeitig ins Ziel kommt.

Der erste Läufer auf der Marathonstrecke am Sonntag wird sich ein bisschen seltsam bewegen. Sein rechtes Bein dreht sich bei jedem Schritt nach außen weg, so humpelt er über den Asphalt. Aber er wird vorneweg laufen und die Strecke ganz für sich alleine haben. Haile Gebrselassie wird ihn wohl erst nach zehn Kilometern einholen.

Klaus-Dieter Knapp leidet an einer inkompletten Querschnittslähmung, deshalb darf er einen Frühstart machen. Um 8 Uhr 10 wird für ihn die Zeitmessanlage in Betrieb genommen, dann läuft er los, fünfzig Minuten vor den anderen. Es ist in diesem Jahr das zehnte Mal, dass er vorher aufbrechen darf. Das gibt dem 52-Jährigen die Chance, ins Ziel zu kommen, bevor nach sieben Stunden die Zeitmessanlage abgebaut wird. Und es verschafft ihm genügend Abstand zum Bus, der die erschöpften Läufer am Schluss des Felds einsammelt. „Wenn der Besenwagen hinter mir ist, bedeutet das Stress, und Stress verstärkt meine Spastik“, sagt er.

Der Marathon ist für Knapp jedes Jahr ein Fluchtversuch. Er will der Lähmung entkommen, die ihm immer weniger Bewegungsfreiraum lässt. Am meisten aufgewühlt ist er daher nicht am Start, den er ganz für sich allein hat, beim Menschenauflauf am Wilden Eber oder im Ziel. Es ist der Moment, wenn die ersten Rollstuhlfahrer auf der Strecke an ihm vorbeirauschen. „Wenn ich das Geräusch der Reifen höre und sie an mir vorbeifahren, denke ich: Jetzt bist du dem Rollstuhl wieder ein Jahr weggelaufen.“

Knapp arbeitet als freier Journalist und Übersetzer. Ohne den Marathon säße er längst im Rollstuhl. Denn seine Behinderung wird von Jahr zu Jahr stärker. „Aber mit dem Marathon kann ich das verlangsamen. Das Training ist dabei für den Körper, der Wettkampf für die Seele.“

Inzwischen hat er sich eine ganze Marathonbiografie erlaufen. Am Sonntag startet er zum 24. Mal in Berlin. Begonnen hat diese Leidenschaft auf einem Stromkasten in Moabit. Das war 1984. Knapp wollte eigentlich nur zwei Freunde bei ihrem Marathon anfeuern und hatte sich dafür auf einen Kasten in der Gotzkowskystraße gesetzt. Doch er blieb dort sitzen, bis der letzte der damals etwa 8000 Teilnehmer an ihm vorbeigerannt war. „So viele unterschiedliche Laufstile, dieser Zug von Leuten, das hat mich wahnsinnig fasziniert.“ Zu Hause hörte er bis zum Schluss die Marathonwelle des SFB, die 1984 zum ersten Mal sendete. Zwei Abende später fragte er seine Freunde Löcher in den Bauch, wie man einen Marathon bewältigen kann. Schon am nächsten Wochenende absolvierten sie die erste Trainingseinheit im Volkspark Rehberge, und ein Jahr später schaffte Knapp seinen ersten Marathon, in 3:44 Stunden. Seine Bestzeit liegt bei 3:27 Stunden.

Damals, 1985, ahnte Knapp noch nichts von dem gutartigen Tumor in seinem Rückenmark. Er wunderte sich nur, dass seine Schuhe immer auf einer Seite so schnell abgelaufen waren. Eine Diagnose erhielt er erst fünf Jahre später. Der Arzt im Klinikum Steglitz hatte auch noch einen Rat für ihn: „Suchen Sie sich schon mal einen Rollstuhl aus und üben sie.“

Damit wollte sich Knapp nicht abfinden. Der Berlin-Marathon ist für ihn fast der wichtigste Tag des Jahres. „So wie andere sich das ganze Jahr auf Weihnachten freuen, teile ich das Jahr in zwei Hälften ein: die Zeit vor und nach dem Marathon.“ Seine Trainingsstrecke liegt immer noch im Volkspark Rehberge. Viele kennen ihn dort, aber längst nicht alle. „Die Leute glotzen immer blöder. Aber so unnormal komme ich mir gar nicht vor.“ Schief angeschaut zu werden, ist auch einer der Gründe, warum er im Sommer einige Monate in Lappland verbringt. Dort trainiert er jeden Tag. „Am Anfang habe ich noch gar keinen Gedanken daran verschwendet, dass Laufen mir guttut, es ging mir nur um den Marathon. Dass es die Behinderung aufhält, ist mir erst seit fünf, sechs Jahren bewusst.“

Mittlerweile braucht Knapp fast sieben Stunden für den Marathon. „Für mich ist das eine größere Leistung als die 3:27 Stunden von früher, weil es viel mehr Schmerzen geworden sind.“ Knapp läuft sein ganz eigenes Rennen, er hält Abstand zur blauen Linie, um die schnellsten Läufer nicht zu behindern, die ihn überholen wollen. Und er sagt: „Ich laufe da am schnellsten, wo die anderen am langsamsten sind, auf der nassen Bahn, auf Bananenschalen und Plastikbechern.“ Dann muss er den rechten Fuß nicht so anheben und kann über den Boden rutschen.

Auch am Sonntag wird der Sprecher am Start ihn wohl wieder erwähnen, wenn er sich auf den Weg macht mit der Startnummer 605. So viel Aufmerksamkeit sei ihm eigentlich nicht recht, sagt er. „Ich würde lieber in einer Gruppe mit anderen behinderten Läufern starten. Zwei, drei andere Krüppel wären schon ganz schön.“

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