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Sport: Die Supermacht fällt

Der Abstand zu China und den USA ist bedrohlich, lange Zeit lag RUSSLAND sogar hinter Kasachstan.

Das Bier ist gut gekühlt, der Wodka Marke Putinka liegt im Gefrierfach, die Schaschlik-Spieße brutzeln auf dem Rost und auch in der Datsche im Wald hinter Moskau ist das Fernsehbild gestochen scharf. Nur die Stimmung ist mau. Gerade ist der Mehrkampf der Turnerinnen zu Ende gegangen. Doch ganz oben auf dem Siegertreppchen steht die US-Amerikanerin Gabrielle Douglas, für die als Favoriten gehandelte Russin Viktoria Komowa reichte es nur zu Silber. Obwohl der Punktabstand minimal war. Doch dicht daneben ist auch vorbei.

Diese Erfahrung machen die russischen Athleten in London auch in anderen Disziplinen, in denen sie fest mit olympischem Gold rechneten. Beim Wasserspringen etwa oder beim Schwimmen. Nach dem für Russland eher enttäuschendem Auftakt versuchten russische Reporter, sich und den Fans, die beim Public Viewing in Kneipen, auf Straßen und Plätzen häufig Tränen der Wut und Enttäuschung in den Augen hatten, Mut zu machen. Für eine Manöverkritik sei es noch viel zu früh, wichtige Entscheidungen, wo „naschi“ – die Unsrigen – durchaus Medaillenchancen haben, würden noch bevorstehen. Wer langsam anspannt, fährt hernach umso schneller.

Doch schon gegen Ende der ersten Wettkampfwoche war Schluss mit dem Selbstbetrug. Der Abstand zu den führenden Nationen China und die USA hat bedrohliche Ausmaße angenommen. Im Medaillenspiegel lag Russland sogar lange Zeit hinter Kasachstan – erst mit der sechsten Goldmedaille durch Ringer Alan Chugajew zogen die Russen am Montagabend an der früheren Sowjetrepublik vorbei.

Russische Sportreporter, die die Spiele direkt von London aus kommentieren, erzählen bei Telefonaten „ganz privat und rein als Mensch“, die Atmosphäre im Quartier der Russen im olympischen Dorf sei „bis zum Zerreißen gespannt“. Bei früheren Spielen habe es nach Siegen fröhliche Gelage gegeben, Sportler und Betreuer hätten sich dabei in den Armen gelegen. Jetzt ist so manchen Athleten sogar beim Start der psychologische Stress anzusehen. Denn der Erfolgsdruck ist immens. In weniger als zwei Jahren wird das olympische Feuer bei den Winterspielen in Sotschi entzündet. Die Russen wollen dann besonders viele Medaillen abräumen, aber bei den letzten Winterspielen vor zwei Jahren in Vancouver lieferten sie ein Ergebnis ab, das die Nation in Schreckstarre verfallen ließ. London 2012 ist die konsequente Fortsetzung von Vancouver bei wärmerem Wetter.

Die jüngsten Misserfolge kratzen am Selbstverständnis der Nation, die den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und den damit verbundenen Abstieg von einer Supermacht zur regionalen Großmacht bis heute nicht wegstecken kann. Viele addieren daher sogar die Medaillen, die Russland in London bisher gewann, und die der 14 anderen UdSSR-Nachfolgestaaten. Doch selbst dieses Ergebnis bleibt weit hinter dem zurück, das sowjetische Olympioniken in den Siebzigern und Achtzigern einfuhren. Breitensport, klagen Experten, sei nach dem Ende der Union lange vernachlässigt worden, daher fehle jetzt auch die Basis für Erfolge im Leistungssport. Zwar sollte ein schon vor zehn Jahren gegründeter Sportkanal die erlahmte Sportbegeisterung der Russen neu entfachen. Der Erfolg hält sich in Grenzen: Statt ins Fitnessstudio zu gehen, gucken die meisten Menschen lieber von der Couch zu, wie andere Gewichte stemmen.

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