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Die sind der Angstgegner.

© Arne Dedert/dpa

Fußball-EM 2016: "Für einen Weltmeister gibt es keinen Angstgegner"

Motivationscoach Steffen Kirchner spricht im Interview über Selbstsicherheit des deutschen Teams, schmutzige Siege und welche deutschen Spieler noch so richtig ihr Potential entfalten können.

Von Ronja Ringelstein

Herr Kirchner, wie wirkt die deutsche Mannschaft vor ihrem ersten Spiel in der EM 2016 auf Sie? Selbstsicher?

Im Rahmen ihrer Möglichkeiten, ja. Wenn man sie mit der Situation vor der Weltmeisterschaft 2014 vergleicht, finde ich, waren sie da an einem ähnlichen Punkt. Aber jetzt ist die Aufgabe schwieriger, weil die Mannschaft in weiten Teilen eine andere ist. Es gibt so viele neue Spieler, gerade in Schlüsselpositionen im Sturm und in der Verteidigung. Deshalb muss sich die neue Mannschaft erstmal suchen und in ihrem Selbstverständnis finden.

Bisher hat das deutsche Team gerade in Drucksituationen seine Stärke entwickelt. Wird das jetzt schwieriger?

Wie gut die weniger Erfahrenen mit dem Druck umgehen können, muss sich zeigen. Es sind noch zu wenig echte Champions in dem Team – wobei ich das nicht als Angriff meine. Ein Champion ist zum Beispiel ein Bastian Schweinsteiger oder ein Miroslav Klose, ein Philipp Lahm. Die sind durch etliche unglaubliche Turniere und Belastungen gegangen. Die haben extreme Erfahrungen im Guten und mit Niederlagen gemacht. Das bildet Persönlichkeit, eine Stärke, die man auf dem Level gar nicht trainieren kann. Die bringt erst die Erfahrung. Aber das Noch-Nicht-Vorhandensein einer Stärke ist ja nicht gleich eine Schwäche. Da können sie natürlich noch hinkommen.

Viel Zeit ist aber nicht mehr – wird’s etwa kritisch?

Es ist schon ein Defizit, dass eine gewisse Persönlichkeitsstabilität noch nicht so da ist. Mustafi zum Beispiel ist ein toller Spieler, aber er hat wenig Erfahrung im Vergleich zu Mertesacker und Co. von 2014. Andere Mannschaften sind da schon etwas stabiler. Wir werden uns noch wundern über das ein oder andere Team, das uns überraschen wird. Polen könnte unangenehmer für uns werden, als man so denkt. Die haben ein seit Jahren gefestigtes Team. Und natürlich tolle Einflussspieler, wie etwa einen Lewandowski.

Die Vorrunde wird also…

…kein Spaziergang! Nordirland ist auch ein unangenehmer Gegner, der uns nicht so richtig liegt. Aber das ist eine gute Aufgabe. Es braucht ein paar Spiele im Turnier, wo sich die Mannschaft durchbeißen muss. Wo man hässlich gewinnt, aber gestärkt aus dem Spiel geht. Unsere ersten drei Spiele können aber richtig happig werden.

Welche Stärke lässt sich denn jetzt schon ausmachen?

Zum Teil ist es ja noch die Besetzung der Weltmeistermannschaft – da schwingt ein Urvertrauen mit. Die Erfahrung „Wir können Titel gewinnen“ ist sehr wichtig, und das Gefühl kann sich auch auf die neuen Spieler übertragen. Wenn ich Teil von etwas Größerem bin, wo der „Kollektiv-Glaube“ funktioniert, überträgt er sich auf mich. Mit dem Deutschlandtrikot streifen sich die neueren Spieler diesen Stolz quasi mit über. Das wirkt auf die Persönlichkeit, aufs Selbstbewusstsein. Und das bringt Stärke.

Das heißt, wir dürfen uns auf viel Neues im deutschen Team freuen?

Auf jeden Fall. Manche Spieler werden ihre Potentiale jetzt erst richtig entfalten. Das wird das Besondere an dieser EM, glaube ich. Über den Sieg kannst du am Ende nicht entscheiden. Was man in der Hand hat, ist der Kampfgeist, der Wille, der wachsen kann. Es wird sich zeigen, welche Spieler das Format haben, Titel zu gewinnen. So können die Spiele richtig schön werden. Jürgen Klopp hat mal sehr schön gesagt, seine Aufgabe sei nicht, die elf besten Spieler aufzustellen, sondern die Spieler zu finden, die am meisten gewinnen wollen. Ich würde sehr gern einen Mustafi auf einem neuen Level erleben. Das wird jetzt richtig spannend. 

Steffen Kirchner arbeitet seit 2008 als Redner und Mentaltrainer und ist Sportexperte.
Steffen Kirchner arbeitet seit 2008 als Redner und Mentaltrainer und ist Sportexperte.

© promo

Und am Ende dann der EM-Titel?

Ich glaube nicht, dass der Titel am Ende entscheidend ist. Die Nationalelf steckt gerade in einer extremen Umbruchphase. Ich könnte mir vorstellen, dass es Löw darum geht, jetzt eine Mannschaft aufzubauen, die perspektivisch für die nächsten acht bis zehn Jahre ausgerichtet ist. Das sieht man ja an Entscheidungen, wen er mitgenommen und getestet hatte. Ich glaube, es wird ein gutes Turnier – darauf kommt es doch an.

… und wir sind in jedem Fall noch zwei Jahre Weltmeister.

Schon. Aber der Titel lastet in diesem Turnier jetzt schwer. Der hat nicht nur Strahlkraft, sondern auch Gewicht. Das können die starken Spieler tragen. Aber da ist wieder das Problem: Viele von denen sind nicht mehr im Team. Einige der jungen Spieler waren ja noch nie in einer Europameisterschaft. Aber sie wirken relativ entspannt und konzentriert. Ich finde, dass man den Spirit vom Team Löw und Bierhoff schon erkennen kann. Das lässt auf Gutes hoffen.

Sané ist der Jüngste im Kader, Schweinsteiger der Älteste – wer guckt sich da was von wem ab?

Vor allem die Jüngeren von den Älteren natürlich. Aber auch ein Sané bringt eine Lockerheit, eine Verspieltheit rein. Eine gute Mannschaft lebt von den Kontrasten. Sie darf nicht zu gleichförmig sein. Auch charakterlich ist es wichtig, eine Vielfalt zu haben. Und die Erfahrung, die unglaubliche Ausstrahlung, die ein Schweinsteiger am Ball hat, wirkt nicht nur auf den Gegner. Die inspiriert auch die Jüngeren im Team.

Lukas Podolski war beleidigt, als er von Journalisten als Maskottchen bezeichnet wurde. Er ist am nahenden Ende einer Ära.

Der Hauptgrund, warum Lukas Podolski noch dabei ist – neben seiner spielerischen Fähigkeit, die ihm zu Unrecht manchmal abgesprochen wird – ist sein Format. Er ist eine Persönlichkeit. Er hat die Fähigkeit, negative Kritik in positive Energie umzuwandeln. Gerade in einer Situation, in der keiner etwas von ihm erwartet, ihn die Leute als „Auslaufmodell“ oder „Maskottchen“ betiteln, kann er noch mal für eine Überraschung gut sein. Das motiviert ihn wahnsinnig. Die „Euch zeig ich’s“- Mentalität braucht Jogi Löw auch im Team. Er ist einer, der mit der Brechstange durchs Spiel gehen kann. Wenn er will, kann er für großes Chaos beim Gegner sorgen. Er ist ein Spezialist für Schnelligkeit, mit einem unheimlichen Zug zum Tor.

Hat Deutschland denn einen Angstgegner?

Die Spanier sind gefährlich – aber die sind für jeden ein Angstgegner, weil die einfach gut sind. Italien kann vielleicht mal ein Angstgegner gewesen sein, aber den haben wir kürzlich umgedreht mit dem 4:1 nach 21 Jahren. Für einen Weltmeister gibt es keinen wirklichen Angstgegner. Ich glaube eher, dass Deutschland für viele ein Angstgegner ist.

Wie kann man einen Angstgegner besiegen?

Das ist eine Frage des Fokus. Ich muss den Fokus bei mir haben und nicht beim Gegner. Ich kann nur das Innere, meine Gefühle, meinen Willen, beeinflussen. Alles andere nicht. Spieler, die Angst haben, haben ihren Fokus auf den äußeren Umständen. Weil sie die gerne ändern würden. Um eine persönliche Topleistung zu bringen, ist die Kontrolle der inneren Prozesse entscheidend. Das äußere Spiel kann ich nur gewinnen, wenn ich mein inneres Spiel gewinne.

Und wie gewinnt man das innere Spiel?

Mit Selbstvertrauen. Das ist wie ein Muskel. Der wächst nicht durch Entspannung, sondern durch Belastung und Schmerz. Es muss auch mal Misserfolge geben, dann kann der Muskel wachsen und so kann ich die Dinge besser beeinflussen.

Als der Tagesspiegel vor dem WM-Halbfinale 2014 mit Steffen Kirchner sprach, schätzte er, dass die deutsche Geschlossenheit die brasilianischen Emotionen schlagen wird - das 7:1 gab ihm recht.

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