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© Imago

Ende der DDR-Elf: Der Unterhändler saß auf der Ersatzbank

Vor 20 Jahren bestritten die DDR-Nationalfußballer ihr letztes Pflichtspiel – und ließen sich von Scouts aus der Bundesliga ablenken.

Für die einen war es das größte Spiel ihres Lebens. Für die anderen war es der größte Basar ihrer Karriere. Es ging um die Weltmeisterschaft, Telefonnummern und viel, viel Geld. Das letzte Pflichtspiel der DDR-Fußballnationalmannschaft war zugleich das Wichtigste: Vor genau 20 Jahren, am 15. November 1989, sollte in der entscheidenden Partie gegen Österreich die WM-Qualifikation perfekt gemacht werden. Doch dummerweise fiel sechs Tage zuvor die Mauer und danach so manche Hemmung.

Als die DDR in der zweiten Halbzeit schon 0:3 zurücklag, saßen auf der Ersatzbank nicht nur enttäuschte Spieler, sondern auch ein Mann mit einem Leibchen, auf dem ein „F“ stand. Das war ein bisschen geschummelt, denn Wolfgang Karnath war kein Fotograf – er war Vermittler des Bundesligisten Bayer Leverkusen. Als Mittelfeldmann Matthias Sammer in der 78. Minute ausgewechselt wurde, sprach Karnath ihn auf der Bank genauso an wie die Stürmer Andreas Thom und Ulf Kirsten nach dem Spiel. Auf einmal ging es nicht mehr um die WM, sondern um Transfers in die Bundesliga.

Dabei hatte DDR-Trainer Eduard Geyer seine Spieler schon am Morgen des 9. November in eine Sportschule im Nordosten von Leipzig zusammengezogen, um sich konzentriert auf das Spiel vorzubereiten. Als Trainer Geyer dort am Abend im Gemeinschaftsraum vor dem Fernseher saß, kamen immer mehr Spieler dazu. „Wir konnten das alles gar nicht einordnen - was soll das denn heißen, die Grenzen sind offen? Wie soll das denn gehen?“, erinnert sich Geyer.

Auf die Idee, einmal selbst zur offenen Grenze zu fahren, kam allerdings keiner der Spieler. „Das Trainingslager zu verlassen, vor dem wichtigsten Spiel, das wir je hatten – das wär ja das Allerletzte gewesen“, sagt der heute 65 Jahre alte Trainer. Der DDR hätte nach einem überraschenden 2:1-Sieg über die Sowjetunion ein Unentschieden gegen die punktgleichen Österreicher gereicht, um zur WM 1990 nach Italien zu fahren. Die DDR hatte 15 Jahre nach ihrer einzigen WM-Teilnahme 1974 einen Jahrgang, der bei Junioren-Turnieren Medaillen gesammelt hatte und dem mit Sammer, Thom, Kirsten und Doll spätere gesamtdeutsche Nationalspieler angehörten. „Wir hatten eine richtige starke Mannschaft und hätten gegen die Österreicher gewinnen müssen“, sagt Ulf Kirsten. Doch plötzlich ging den Spielern anderes durch den Kopf. Eine ruhige, zielgerichtete Vorbereitung war kaum noch möglich, erinnert sich Trainer Geyer. „Die Konzentration ließ nach, jeder hatte mit sich selbst zu tun, die Spieler waren mit vielen anderen Dingen beschäftigt.“ Doch es war nicht nur die politische Wende, sondern auch der nun mögliche Wechsel in den Westen, der die Spieler beschäftigte. Rico Steinmann, mit 21 schon Spielmacher der DDR-Elf, beschreibt: „Auf einmal hatten wir die Möglichkeit, in der ganzen Welt zu spielen oder zumindest in der Bundesliga.“

Als die Mannschaft dann vor dem Spiel umzog, in die Sportschule Lindabrunn bei Wien, standen auf einmal Leute am Trainingsplatz, die zu Mauerzeiten nicht dort gestanden hätten, erinnert sich Steinmann – Spielervermittler, echte und falsche, Abgesandte von Vereinen, die Telefonnummern wollten.

„Nach dem Mauerfall waren DDR-Spieler mein Thema“, sagt Reiner Calmund, damals Manager bei Bayer Leverkusen. „Da kriegt man natürlich Heißhunger auf die besten Spieler im Osten.“ Also schickte er zwei Scouts und vor allem den Unterhändler Wolfgang Karnath zum Spiel nach Wien. „Wenn man den vorne rauswirft“, sagt Calmund, „klettert der hinten durch das Fenster wieder herein.“ Karnaths Auftrag: Die Telefonnummer von Thom, Sammer und Kirsten.

Das Wiener Praterstadion war an jenem Mittwochabend ausverkauft, 55 000 Zuschauer, darunter 4000 aus der DDR, für die erstmals die Visapflicht aufgehoben war. Als die DDR-Fußballer den Platz betraten, gab es Pfiffe – nicht für sie, sondern für Österreichs Stürmer Toni Polster, der im Nationaltrikot nicht so traf wie im Verein. „Ich will nicht von Schadenfreude sprechen, aber wir dachten schon, dass es ihn verunsichern könnte“, sagt Steinmann. Tat es aber nicht: Schon nach 120 Sekunden traf Polster zum 1:0, dann zum 2:0 und 3:0. Steinmann dagegen verschoss einen Elfmeter. „Es ist nicht so, dass wir unmotiviert waren, sondern eher übermotiviert“, sagt er. „Wir wussten ja wer alles auf den Tribünen saß.“ Doch die Scouts und Spielerberater hielt es nicht lange dort.

Nach dem Spiel „lief alles querbeet durch die Gänge“, erinnert sich Ulf Kirsten: Österreicher, Journalisten, Manager. Neben Karnath sprach ihn auch Roland Koch an, damals Kotrainer beim 1. FC Köln. Koch gab Kirsten eine Autogrammkarte, er hatte seine Nummer daraufgeschrieben. Kirsten sah die Nummer nicht und schmiss die Karte weg.

Bayer-Scout Karnath blieb hartnäckiger, fuhr dem DDR–Mannschaftsbus die 50 Kilometer bis zum Mannschaftsquartier in Lindabrunn hinterher. Während Kirsten und Steinmann auf den Zimmern Frustbier kippten, traf sich Andreas Thom heimlich auf dem Trainingsgelände mit Karnath.

Auf dem Rückflug am nächsten Tag saß Karnath mit der Mannschaft in der Interflug-Maschine nach Berlin, schon am Nachmittag klingelte Reiner Calmund mit Pralinen und Blumen an der Tür der Thoms. Der Stürmer unterschrieb im Dezember 1989 bei Bayer Leverkusen, doch bis heute ärgert er sich über die Niederlage des DDR–Teams Wien. Im Nachhinein sagt man, die Spieler waren nicht mehr bei der Sache – „aber wir haben alles versucht“, sagt Thom noch heute und beteuert, vor dem Spiel mit niemandem gesprochen zu haben. Im Juli 1990, als die BRD in Rom Weltmeister wurde, jubelte Andreas Thom zwar mit, doch gleichzeitig dachte er: Da hätten wir dabei sein können. Und trotz Bundesliga, Millionenvertrag und Länderspielen für die Bundesrepublik – die Chance, bei einer Weltmeisterschaft zu spielen, hat Andreas Thom nie wieder bekommen.

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