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Lens

© pa/dpa

Untat von Lens: Leben mit der Schande

1998 verletzte er zusammen mit anderen Hooligans einen Gendarmen schwer. Heute sucht er seine zweite Chance in der Kreisliga.

Frank Renger trägt sein Leben in Schichten auf dem Körper. Ganz oben eine schwarze Jacke von TuRa 1886 Essen, seiner neuen Familie. Darunter ein graues Trikot von Schalke 04, seiner alten Liebe. Ganz unten ein schwarzes T-Shirt, auf dem hinten die Worte „Betreuer“ und „Samurai“ stehen. Samurai war der Name des alten Frank Renger, vor seiner „Tat“, wie er das nennt, was am 21. Juni 1998 geschah. So wurde er genannt, weil er mal ein japanisches Schwert geschenkt bekommen hat. „Ein echtes, scharfes“, sagt Renger. „Keines aus Blech.“ Dieses Schwert nahm er im Kofferraum mit zu Fußballspielen. „Falls ich es gebraucht hätte, hätte ich es rausgeholt. So bescheuert sich das auch anhört“, sagt Renger.

Heute sieht man Renger nicht an, dass er sich früher regelmäßig bei Fußballspielen prügelte. Eine tiefe Narbe auf seiner Stirn zeugt zwar noch davon. Aber von welcher der vielen Schlachten gegen eine gegnerische Hooligan-Truppe sie stammt, weiß Frank Renger nicht mehr. Man traut dem gedrungenen 41 Jahre alten Vater von zwei Kindern kaum zu, dass er mal ein Hooligan war. Er wirkt gemütlich, das Schalke-Trikot spannt sich über seinem Bauch. Und doch war Renger einer der Männer, die 1998 im französischen Lens etwas taten, was der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl als „Schande für unser Land“ bezeichnete.

Als „Samurai“ prügelt sich Renger in den neunziger Jahren als Hooligan der Schalker „Gelsen-Szene“. „Es ging darum zu zeigen, dass man was draufhat, dass man kein Feigling ist“, sagt er heute. Wenn es losging, floss bei ihm „pures Adrenalin“. Und oft Blut. Am Tag nach einer Schlägerei hat er keine Gewissensbisse, sondern putscht sich weiter auf. Nicht nur beim Fußball rastet er schnell aus. „Ich war ein Dreckschwein“, sagt Renger heute. „Ich habe zuerst zugeschlagen und dann Fragen gestellt.“ Seine Frau ist über sein Leben nicht begeistert, „aber sie hat mich halt gelassen“.

1998 fährt er spontan nach Lens. Er hofft, für 500 Mark noch eine Karte zu bekommen

Auch 1998 lässt sie ihn, als er fragt, ob sie etwas dagegen hat, dass er spontan nach Lens fährt. Dort trifft Deutschland in der Vorrunde der WM auf Jugoslawien. Renger hofft, für 500 Mark noch eine Karte zu bekommen. Doch die Schwarzmarkthändler vor dem Stadion Félix Bollaert verlangen 2000 Mark, das kann sich der 30 Jahre alte Molkereiarbeiter nicht leisten. Nach dem enttäuschenden Spiel, das Renger in einer Kneipe verfolgt und das 2:2 endet, geht das Gerücht , es seien englische Fans in der Stadt, die sich mit den deutschen messen wollen. Deutsche Hooligans ziehen in Gruppen durch Lens, Renger und andere suchen einen Weg zu den Engländern und finden doch nur Polizeisperren. Irgendeiner entdeckt die Rue Romuald Pruvost. Der Ruf „Hier sind nur drei, hier kommen wir durch“ lässt auch Renger in die Richtung rennen.

Zwei der drei Polizisten, die in der Gasse ein paar Polizeifahrzeuge bewachen, können noch flüchten. Der 41 Jahre alte Daniel Nivel aber, Vater von zwei Kindern, geht zu Boden und verliert seinen Helm. Mehrere Hooligans prügeln auf ihn, schlagen, treten. Einer lässt ein Reklameschild auf den längst Wehrlosen herabsausen, ein anderer drischt mit Nivels Gewehr auf dessen Kopf ein. Renger tritt mehrmals zu, dann rennt er weg.

Als er auf dem Rückweg im Autoradio hört, dass ein Polizist nach einem Angriff deutscher Hooligans mit dem Tod ringt, weiß er sofort, um wen es geht. Als er sich selbst auf Fotos in der „Bild“-Zeitung erkennt, weiß er auch, dass er nicht davonkommen wird. Am 14. Juli, knapp einen Monat nach dem Angriff, wird er verhaftet. Zu diesem Zeitpunkt liegt Daniel Nivel immer noch im Koma. Sein Schädel ist an mehreren Stellen zertrümmert, das Schläfenbein, die linke Augenhöhle. Die linke Hirnhälfte hat Schaden genommen, ein Halswirbel ist angebrochen, er hat Blutergüsse am ganzen Körper.

Beim Angriff auf den Gendarmen tritt er zu „wie gegen einen Fußball“

Vor dem Landgericht Essen wird den vier deutschen Hooligans, die die Polizei ermitteln konnte, der Prozess gemacht. Zeugen sagen aus, die Männer hätten sie bei der Tat an eine Hundemeute erinnert, die sich in ein Opfer verbeißt. Von Blutrausch und wilden Tieren ist die Rede, der Staatsanwalt spricht von „besonderer Gefühlskälte“ und „unglaublicher Brutalität“. Renger selbst gibt zu Protokoll, er sei „wie elektrisiert“ gewesen. Er habe zugetreten „wie gegen einen Fußball“.

Als die Angeklagten am Morgen des zwölften Prozesstags in den Gerichtssaal geführt werden, stockt Renger der Atem. Niemand hat ihm gesagt, dass Familie Nivel angereist ist. Daniel Nivel sitzt ihm direkt gegenüber. „Wieso schaut der nur mich an? Wieso schaut der niemand anders an?“, denkt Renger. Damals weiß er noch nicht, dass Nivel fast gar nichts mehr sieht, die Schläge und Tritte haben ihn beinahe erblinden lassen, sein Gehirn wurde so stark geschädigt, dass er nur noch wenig von seiner Umgebung wahrnimmt. Nivels Frau Lorette berichtet, ihr Mann könne nicht mehr lesen, keinen Sport treiben, nicht mehr Auto fahren. „Er ist nicht mehr derselbe“, sagt sie. „Uns geht es schlecht, unser Leben lang.“ Und verzeihen, nein, verzeihen könne sie den Angeklagten nicht.

Frank Renger sagt der Familie Nivel, dass er sich schämt, dass es ihm „sehr, sehr leid“ tut. Auch nachdem er wegen schwerer Körperverletzung zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wird, möchte er Nivel einen Brief schreiben, sich entschuldigen. Sein Anwalt hält das für keine gute Idee: „Abstand, Herr Renger, Abstand.“ Bei der Urteilsverkündung hält es der Richter für nötig, klarzustellen: „Die Angeklagten sind keine Monster, sondern nur Menschen, die sich wie Monster verhalten haben.“

Fünf Jahre sitzt er im Gefängnis, zehn Jahre darf er kein Fußballstadion betreten

Nach knapp fünf Jahren hinter Gittern, in denen er sich täglich damit beschäftigt, „welche Scheiße“ er gebaut hat, kommt Renger wieder frei. Doch sein Leben ist ein anderes. Seine Frau hat ihn verlassen, seine Geschwister haben sich über die Frage entzweit, ob sie zu ihm halten sollen. Renger ist frei, aber diese Freiheit beinhaltet nicht, dass er zum Fußball darf. Zehn Jahre Stadionverbot hat ihm der DFB erteilt. Trotzdem kann Renger vom Fußball nicht lassen. Schalke verfolgt er aus der Ferne, Freunde verzichten seinetwegen auf Stadionbesuche und sehen mit ihm fern. Manchmal schaut er sich die Spiele im Vereinsheim des Schalker Fan-Dachverbands an. Eine Ecke weiter kann er sich nicht mehr sehen lassen – dort trifft sich immer noch die „Gelsen-Szene“. Die alten Weggefährten mögen es nicht, wenn jemand auspackt.

Er sucht sich eine andere Beschäftigung. Immer häufiger besucht er die Spiele des Sohns seiner Ex-Freundin, der beim Essener Klub TuRa 1886 in der Kreisliga B kickt. Er mag die Spieler, will Teil des Teams sein, schleust sich vor Spielen in die Kabine. „Dann bin ich zum Vorstand gegangen und hab denen gesagt, wer ich bin. Und dass das alles Vergangenheit ist“, sagt Renger. Er fragt, ob er ehrenamtlich als Betreuer arbeiten kann. Nach dem ersten Schrecken beschließt die Klubführung, dass er eine zweite Chance verdient hat. Ab sofort steht Renger dienstags und donnerstags beim Training auf dem roten Ascheplatz. Er pumpt Bälle auf, kümmert sich um Getränke, bei Punktspielen macht er den Linienrichter. Bis auf die Leute aus dem Vorstand nennen ihn alle „Samurai“. Den Namen mag er immer noch, auch auf dem Mannschaftsfoto im Internet heißt er so. Sein Schwert liegt allerdings in einer Asservatenkammer der Essener Behörden. Vor ein paar Wochen steigt TuRa auf, schon vier Spieltage vor Saisonende, mit einem 14:1 gegen die dritte Mannschaft des Vogelheimer SV. Renger genießt die spontane Aufstiegsparty. Bei TuRa fühlt er sich geborgen, „wie in einer Familie“. Beim Hauptsponsor, einer Bäckerei, findet er einen Job. Es geht aufwärts.

Seinen Schalke-Schal trägt er wieder. Darauf steht: „Blau und Weiß – ein Leben lang“

Am 31. Dezember 2008 endet sein Stadionverbot, schon beim ersten Schalker Heimspiel gegen Werder Bremen ist er wieder in der Arena. Auf seinem Schal steht „Blau und Weiß – ein Leben lang“. Renger sagt, dass ihm die Aggression, die Konfrontation mit dem Gegner, die er früher suchte, nicht mehr wichtig sei. „Da kribbelt nichts mehr.“ In der Rückrunde fährt er auch zu den Auswärtsspielen nach Bochum, Wolfsburg und Mönchengladbach; wann immer er Karten bekommt, steht er in der Nordkurve der Gelsenkirchener Arena. Mit anderen Schalkern kann er leidenschaftlich über Fußball diskutieren, natürlich besonders über große Siege gegen Borussia Dortmund, die „Zecken“. Doch ab und zu muss er passen, zum Beispiel, wenn jemand vom glorreichen 4:0-Auswärtssieg in Dortmund aus der Saison 2000/01 erzählt. „Da war ich woanders“, sagt Renger dann, und alle wissen, was er meint.

Am Samstag wird Frank Renger um zwei Uhr früh vor der Schalker Geschäftsstelle in einen Fanbus steigen. Wenn er ein paar Stunden später in Berlin ankommt, wird er reichlich Bier getrunken haben. „Einfach nur Party“ will er beim Spiel im Berliner Olympiastadion machen. Wie sich Schalke gegen Hertha schlägt, ist ihm nach der verkorksten Saison der Gelsenkirchener fast egal. Bei einem Tor für Schalke wird er trotzdem aufspringen und jubeln, bei vergebenen Chancen wird er Kevin Kuranyi als „Bratwurst“ und „Abseitskönig“ beschimpfen und Gerald Asamoah einen „Maulwurf“ nennen.

Frank Renger hat nie daran gedacht, vom Fußball zu lassen. Auch wenn es ein Spieltag war, an dem er gleich mehrere Leben zerstörte. „Aber wenn ich dem Fußball die Schuld geben würde, würde ich mich ja nur selbst belügen“, sagt er.

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