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Sport: Lautlos in Riesa

Von Michael Rosentritt Als Alis Hände wieder einmal anfangen zu zittern, hält die ältere Dame hinter der Absperrung den Atem an. Bei offenem Mund.

Von Michael Rosentritt

Als Alis Hände wieder einmal anfangen zu zittern, hält die ältere Dame hinter der Absperrung den Atem an. Bei offenem Mund. Das geht vermutlich allen Menschen hier in Riesa so, die Muhammad Ali das erste Mal in ihrem Leben leibhaftig gegenüberstehen. Wahrscheinlich geht es den meisten Menschen auf diesem Erdball so. Ist es nostalgische Wehmut, die diese Menschen beinahe erstarren lässt? Sind es die Erinnerungen an unvergessliche Nächte, in denen die ältere Dame, ihr Mann, wir alle aufstanden, um den leichtfüßigen, großmäuligen Clay boxen und siegen zu sehen?

November 1990: Muhammad Ali landet in Bagdad, um mit Diktator Saddam Hussein über die Freilassung amerikanischer Geiseln anlässlich des Erntedankfestes zu verhandeln. Der amerikanischen Regierung war das trotz mehrfacher Versuche völlig misslungen. Nach sieben Tagen tritt Ali die Heimreise an. Im Gepäck 14 amerikanische Geiseln. Hussein verspricht Ali, auch die restlichen Geiseln freizugeben, wenn Präsident Bush sich kooperativ verhält. Alis erste Worte in Amerika: „Ich bin glücklich, dass ich nützlich sein konnte. Die Menschen sollten friedlich und nicht gegeneinander leben.“ Knapp drei Monate später bricht der Krieg zwischen Irak und den USA aus.

19. Juli 1996, Atlanta: Ein Bild geht um die Welt. Der schwer kranke Ali hält die olympische Fackel zitternd in seinen Händen. Einige Sekunden steht er da und macht nichts. 1,5 Milliarden Menschen weltweit sitzen tränenverhangen vor den Fernsehschirmen und sehen zu, wie Ali das Olympische Feuer der Sommerspiele entzündet.

Riesa, Bagdad, Atlanta sind nur drei von hunderten Beispielen. Alis Wirkung auf die Massen ist eher noch stärker geworden. Aber nicht wegen dem, was er einmal war, sondern wegen dem, was er heute ist: ein Idol. „Und ein gütiger Mensch, der im Frieden mit sich und seinen Mitmenschen lebt“, wie sein Frau Lonnie sagt.

Ali ist krank. Seit 1984 leidet er am Parkinson-Syndrom, auch Schüttellähmung genannt. Es ist eine langsam fortschreitende Gehirnerkrankung. Ihre Grundlage ist der Mangel an Dopamin, einem so genannten Botenstoff oder Neurotransmitter, einem Befehlsübermittler für die Muskulatur. In der Regel tritt die Erkrankung im mittleren Alter auf. Die genaue Ursache der Parkinsonschen Krankheit bleibt meist ungeklärt.

Die Scheinwerfer halten sein altersloses Gesicht fest. Im grellen Licht wirkt es makellos und entspannt. Ali bewegt sich wie auf Schienen, so monoton. Was ist aus ihm geworden, werden die Leute denken. Die wenigsten von ihnen werden wissen, wo und wann es war, aber sie alle kennen sein Leitmotiv für den Ring: „Float like a butterfly, sting like a bee“ („Schweben wie ein Schmetterling, zustechen wie eine Biene“). Es war an jenem Morgen des 25. Februar 1964 beim Einwiegen, eine normalerweise unspektakuläre Prozedur. Als Sonny Liston, sein Gegner, erschien, skandierte Cassius Clay immer und immer wieder diesen Schlachtruf. Sein Gebrüll steigerte sich zur Raserei, Clay schien wie von Sinnen“, schrieb damals die „Los Angeles Times“. Am Abend schlug Ali den für unschlagbar gehaltenen Liston k. o. Ali wurde das erste Mal Weltmeister.

Aus dem Schweben wie ein Schmetterling ist ein Tapsen wie ein alter Bär geworden. Heute besticht er mit kleinen Zauberkunststückchen. Kurz vor der Deutschlandpremiere des Films „Ali“ sitzen 3500 Menschen andächtig in der Erdgasarena zu Riesa. Ali zückt ein kleines, rotes Tuch hervor und lässt es zwischen seinen zittrigen Händen wieder verschwinden. Ein Taschenspielertrick. Das Erstaunen im Auditorium quittiert er mit einem spitzbübischen Lächeln. Seine Mimik setzt er sparsam ein. Das Sprechen fällt ihm noch schwerer. Dann schließt er seine Augen, um wie aus einem Sekundenschlaf erfrischt, ein Wort im dünnen Ton hervor bringt. In solchen Momenten kleben die Leute, die ihn umschwirren, an seinen Lippen. „Beautiful“, raunt er, nachdem ihn Udo Lindenberg mit zwei Liedern bedacht hat. „Es ist für mich ein großer Moment, dich persönlich kennen zu lernen“, sagt Lindenberg: „Dein unbeugsamer Kampf gegen Krieg und für Gerechtigkeit haben dich zu einen leuchtenden Vorbild für uns alle gemacht.“

Ali war der Wegbereiter für Fernsehübertragungen in allen fünf Erdteilen. Kein Gesicht wurde so oft fotografiert. Heute ist Ali 60 und lebt auf seinem Anwesen in Berrien Springs (Michigan). In Deer Lake (Pennsylvania) besucht er regelmäßig ein Camp für Behinderte, das er geschaffen hat.

Noch einmal Riesa. Ein dünnes Mädchen von vielleicht acht Jahren hat sich bis vor Alis Bauch gekämpft. Vor lauter Aufregung tritt sie ihn fast auf den Fuß, den er in Vorahnung gerade noch ein Stück zurücksetzt. Die Kleine starrt den großen, schwarzen, weichen Mann mit leuchtenden Augen an und ist überwältigt. Sie streckt ihm ein Foto entgegen, das Ali als jungen Boxer zeigt. Ali schaut das Kind zehn Sekunden lang an, streicht ihr über das Haar und malt sein Autogramm: M. Ali.

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