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© dpa

Sternstunden der Leichtathletik: Armin Hary: Der endlos lange Sprint

Armin Hary rannte als erster Mensch 100 Meter in 10,0 Sekunden – aber angekommen ist er bis heute nicht.

In der Zeit, die man üblicherweise zum Binden der Schnürsenkel benötigt, war er schon im Ziel. Alles ging unglaublich schnell bei ihm, der Aufstieg, der Sieg, das Karriereende. Und auch heute, mit 72 Jahren, legt Armin Hary noch ein hohes Tempo vor, wenn es darum geht, zurück in die Gegenwart zu kommen. Eine Frage zu ihrem Erfolg von damals, Herr Hary: Welche Bilder gehen ihnen durch den Kopf? „Ich denke nicht täglich dran, dass ich vor 50 Jahren mal ein toller Hecht war“, sagt Hary am Telefon, nicht einmal unfreundlich. Er will lieber über das Hier und Jetzt reden und begründet das mit einem Spruch, der auf einem Abreißkalender stehen könnte. „Wissen Sie, heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens.“

Einige Minuten später lässt er sich doch auf die Vergangenheit ein, auf zwei legendäre Ereignisse innerhalb von wenigen Wochen. Armin Hary war der erste Mensch, der die 100 Meter in 10,0 Sekunden lief. Und er wurde im selben Jahr, 1960, Olympiasieger über 100 Meter und mit der Sprintstaffel. „Der Weltrekord wird irgendwann gebrochen, aber Olympiasieger bleibt man, deshalb bedeutet mir das mehr“, sagt Hary, schiebt jedoch hinterher, „in der Öffentlichkeit werde ich mehr mit der 10,0 in Verbindung gebracht.“ Es funktioniert eben auch andersherum: Olympiasieger gibt es viele, aber nur einen, der eine solche Marke setzt.

Zehnkommanull. Das ist seine Zahl geworden. Ihr rannte er hinterher, und er hat sie eigentlich schon 1958 eingeholt. Am 6. September steht Hary in Friedrichshafen am Start. Mit dem Selbstbewusstsein, kurz zuvor Europameister geworden zu sein. Ein ehrgeiziger blonder junger Mann aus einer Bergmannsfamilie im Saarland. Die Stoppuhren, damals noch per Hand betätigt, bleiben bei 10,0 stehen. Doch dieser Weltrekord wird nicht anerkannt. „Sie haben extra die Bahn nachgemessen“, sagt Hary. Die Messung ergibt knappe elf Zentimeter Gefälle, einer mehr als zugelassen.

Wenn Hary davon erzählt, wirkt seine sportliche Laufbahn nicht flach, sondern verbaut von Hürden. „Ich hatte damals ganz Deutschland gegen mich“, sagt er. Mit dem Deutschen Leichtathletik-Verband liegt er über Kreuz. „Ich habe mir nicht viel gefallen lassen, einen Trainer habe ich nicht gebraucht und mir gesagt: Ich kann das auch alleine.“ Sein Verband will ihn 1960 auch nicht zum Sportfest nach Zürich schicken, er soll sich auf die Olympischen Spiele konzentrieren.

Hary fährt trotzdem, es ist der 21. Juni 1960. Wieder läuft er 10,0 Sekunden. Jetzt hat er es geschafft – oder nicht? Die Wettkampfleitung will seinen Rekord nicht anerkennen, weil er zu früh losgelaufen war. Der Starter hatte allerdings keinen zweiten Schuss abgefeuert als Zeichen für den Fehlstart. Hary bekommt Unterstützung von Gustav Schwenk, dem einzigen deutschen Journalisten im Stadion. Schwenk sagt dem Kampfgericht, dass Hary ein Wiederholungslauf zustehe. Eine halbe Stunde später kniet Hary wieder im Startblock und schaut auf die Aschenbahn vor sich. „Um Gottes Willen, jetzt nicht noch ein Fehlstart“, denkt er sich, auch wenn der Eindruck nach außen ein anderer war. „Er war ein Spieler und sehr selbstbewusst“, erinnert sich Schwenk. Hary stürzt aus dem Startblock und siegt – wieder in 10,0 Sekunden. „Ich habe fast ein bisschen Schadenfreude empfunden. Aber wenn das nicht geklappt hätte, wäre mein Ruf endgültig dahin gewesen.“

Er hat das erste seiner beiden großen Ziele erreicht. „Ich wollte einmal schnellster Mann der Erde sein und einmal Olympiasieger.“ Die Gelegenheit dazu kommt wenige Wochen später, am 1. September 1960 in Rom. Hary gewinnt in 10,2 Sekunden. Auch mit der Staffel holt er Gold. Allerdings: „Ich konnte mich nicht richtig freuen.“ Vielleicht werden seine Glücksgefühle überlagert von seinem Groll gegen den Verband.

Der Ärger mit dem Verband geht auch nach seinen Olympiasiegen weiter, Hary wird 1961 für mehrere Monate gesperrt, weil er zu einem Wettkampf mit dem Auto angereist war, aber eine Bahnfahrt abrechnete. Es geht um 70 Mark. Nachdem seine Sperre abgelaufen ist, erklärt er seinen Rücktritt – mit 24 Jahren.

Seit vielen Jahren sucht er nun seinen Nachfolger, einen, der wie er aus sozial schwachen Verhältnissen emporschnellt. Er hat eine Stiftung gegründet, die „AHA-F“, Armin-Hary-Förderung – Initiative zur kommunalen Förderung jugendlicher Sporttalente. Er sammelt Geld, um jungen Athleten eine Ausrüstung zu finanzieren, eine Bahnfahrkarte oder ein Fahrrad, um zum Training fahren zu können. „Es gibt in Deutschland drei Millionen arme Kinder, die keinen Sport machen können, da wird mir schlecht, wenn ich daran denke.“ Unruhig wirkt er, wenn er von seinem Projekt erzählt, „mir geht das alles zu langsam“.

Bis heute ist Armin Hary der einzige deutsche Sprint-Olympiasieger. Seine Leistung ist Legende, aber nicht unbedingt sein Ansehen. Möglicherweise, weil er ein Querkopf ist. „Ich habe meine großen Siege im Ausland erreicht“, sagt er. In Deutschland wurde er 2000 zum „Läufer des Jahrhunderts“ gewählt, und auch jetzt bei der WM soll er noch einmal gewürdigt werden, die Einladung des deutschen Verbands hat er schon angenommen. „Heute freut mich das mehr als vor 50 Jahren“, sagt er. Alles geht bei Armin Hary schnell, nur das Ankommen dauert sehr lange.

Bisher erschienen: Jesse Owens 1936 in Berlin. Nächster Teil: Ulrike Meyfarths Olympiasieg 1972.

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