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Lucien Favre: Der Trainerberuf geht an die Substanz.

© dapd

Herthas Ex-Trainer: Lucien Favre: Leidenschaft, die Leiden schafft

Dass der Trainerberuf an die Substanz geht, hat Lucien Favre am eigenen Leib erfahren – auch bei Hertha BSC. In Zeiten des Erfolgs genauso wie bei Misserfolg.

Die SPD hat gerade die Bundestagswahl verloren und Hertha BSC das Spiel in Hoffenheim, da bekommt Ralf Rangnick eine erste Ahnung davon, was der Fußball so alles anstellen kann mit einem Menschen. Nerven und Burn-out und so. Der Hoffenheimer Trainer Rangnick traut sich im September 2009 gar nicht, den triumphalen 5:1-Sieg zu genießen, so sehr leidet er mit seinem Berliner Kollegen. Lucien Favre sitzt neben ihm und soll erklären, was da gerade passiert ist mit seiner Mannschaft. Favre sagt nur, dass er eigentlich nichts sagen kann, bevor er sich das ganze Spiel noch einmal auf DVD angeschaut hat. Zwei-, dreimal hintereinander dieselbe Frage, immer dieselbe Antwort. Rangnick ist irritiert. Einem Vertrauten erzählt er, so etwas Erschreckendes habe er noch nie erlebt.

Zwei Jahre später quittiert Rangnick, mittlerweile bei Schalke 04 unter Vertrag, seinen Dienst. Vegetatives Erschöpfungssyndrom, er kann nicht mehr, Rückkehr offen. Rangnick ist der erste Bundesligatrainer, der diesen Schritt wagt, und das auch noch öffentlich.

Zur selben Zeit eilt ein blendend aussehender Lucien Favre von Sieg zu Sieg und in die Spitzengruppe der Bundesliga. Mit Borussia Mönchengladbach, einer Mannschaft, die im vergangenen Jahr fast schon abgestiegen war, bis sie von dem in Stresssituationen angeblich überforderten Schweizer in einer spektakulären Kommandoaktion gerettet wurde.

Wie ist so etwas möglich?

Zu Ralf Rangnick mag Lucien Favre sich nicht äußern, das gebiete der Respekt vor dem Kollegen. „Ich kann nur über mich sprechen.“ Also, wie war das im September 2009? „Es war sportlich eine schwere Zeit. Die Erwartungen waren groß, und wir standen auf dem letzten Platz. Natürlich leidest du da. Aber ich hatte nie Angst vor einem Burn-out.“

Über Berlin mag er auch nicht mehr viel reden, „ich verstehe ja, dass Sie das alle wissen wollen“, weil er jetzt am Samstag zum ersten Mal nach seiner Entlassung als Gegner im Olympiastadion aufkreuzt. „Berlin ist vorbei“, sagt Favre, und die stressigste Zeit seiner Karriere habe er auch nicht in den Krisenwochen bei Hertha BSC erlebt, sondern im Moment des Triumphes. Als die Gladbacher Rettung perfekt war, nach zwei elend langen Relegationsspielen gegen den VfL Bochum. „Diese ständige Angst, es könnte doch noch schief gehen. Es war sehr, sehr schwer.“

Lucien Favre ist am Mittwoch 54 Jahre alt geworden, doch er liebt dieses Spiel immer noch wie ein kleiner Junge. „Aber ich liebe nur dieses Spiel, den Ball und alles was auf dem Platz passiert. Nicht das große Ganze drumherum.“

Was im Berliner Herbst des Jahres 2009 passiert, hat nicht immer nur mit Fußball zu tun. Nach einer großartigen Saison mit Platz vier forciert der Klub die Trennung vom mächtigen Manager Dieter Hoeneß. Favre spürt, dass seine Dissonanzen mit dem Manager als Anlass für die Trennung herhalten sollen. Im Sommer muss Hoeneß gehen, Favre schwankt. Es gibt Anfragen von anderen Klubs, „aber wie hätte ich Hertha denn in dieser Situation verlassen sollen? Nein, das war einfach nicht möglich.“

Er bleibt und bekommt vom Verein eine nicht konkurrenzfähige Mannschaft. Es gibt ein paar dumme Niederlagen und das Desaster von Hoffenheim. Ein paar Stunden danach ist Lucien Favre arbeitslos, und weil er zwei Wochen später auf einer ungeschickten Pressekonferenz ein paar ungeschickte Sachen sagt, wird sich daran bis zum Februar 2011 nichts ändern.

Vielleicht hat diese Pressekonferenz im Hotel Adlon Favres Karriere gerettet. Auf einmal hat er das, was früher nie da war. Zeit. Viel Zeit. „Ich habe 13 Jahre am Stück gearbeitet, nie richtigen Urlaub gehabt. Diese Pause war unglaublich wichtig, und ich hätte sie von allein nie gemacht.“ Favre kuriert ein Darmproblem aus, er geht auf Reisen, liest viel und lernt. Deutsch. Nie wieder will er die Deutungshoheit über seine Gedanken anderen überlassen.

Als ihn im Februar 2011 die Anfrage aus Mönchengladbach erreicht, ist das ein wenig Erfolg versprechender Job. Zwölf Spieltage vor Schluss liegt die Borussia als Letzter sieben Punkte hinter dem Relegationsplatz.

Aber es ist die Bundesliga, „der Verein von Netzer und Weisweiler“, sagt Favre, er spürt das Adrenalin und sagt zu. Seine Spieler werden später erzählen, sie hätten vom ersten Tag an die Begeisterung des neuen Trainers gefühlt, seine präzisen Anweisungen, abgefasst mit einer rhetorischen Finesse, wie sie in Berlin noch undenkbar war. Gleich zum Debüt feiern die Gladbacher gegen Schalke den ersten Heimsieg der Saison, aber die Mühen in der Ebene des Alltags sind hart. Der Tiefpunkt ist an einem Freitag Mitte März erreicht. Torhüter Logan Bailly fabriziert ein Eigentor zum 0:1 daheim gegen Kaiserslautern. Später in der Nacht ruft Arsène Wenger an. Der Trainer vom FC Arsenal sagt: „Lucien, mit dieser Mannschaft wird es schwer!“

"Es ist schwer, aber wir können es schaffen!" - Lesen Sie weiter auf Seite 2

Doch Favre profitiert von den in der langen Auszeit angelegten Reserven. Und er glaubt an seine Spieler, an ihre Intelligenz und Auffassungsgabe. Der Trainer mag im modernen Fußball die wichtigste Figur sein, aber er ist eben auch der einzige, der nicht mitspielen, schießen und grätschen darf. Also redet er die Mannschaft stark. Immer wieder sagt Lucien Favre: „Es ist schwer, aber wir können es schaffen!“ Als auch das nächste Spiel in München verloren geht, stellt er den 18 Jahre alten Marc-André ter Stegen ins Tor. Nur zwei Gegentore kassiert ter Stegen in seinen ersten fünf Spielen, bis auf eins werden alle gewonnen.

Mit jedem Sieg steigt die Hoffnung auf das Wunder und damit auch der Stress. „Auf einmal war alles wieder drin“, sagt Favre, „da kannst du dir tausendmal sagen, dass niemand von dir den Klassenerhalt erwartet. Ich habe ihn erwartet!“

Es beginnt mit einem leichten Ziehen im Bauch. Favre sucht Ablenkung, „du musst in solchen Situationen wegkommen vom Fußball“. Spazieren gehen, Rad fahren, lesen, irgendetwas, „schauen Sie sich Alex Ferguson an, der züchtet Pferde. Das ist das einzige Problem von Arsène Wenger. Er hat kein Hobby.“

Vor dem letzten Spieltag steht die Borussia erstmals seit sieben Monaten nicht mehr auf einem direkten Abstiegsplatz. Punktgleich mit dem Fünfzehnten Wolfsburg, einen Punkt vor dem Siebzehnten Frankfurt. Alle drei Rivalen müssen auswärts antreten. Gladbach beim HSV, Wolfsburg in Hoffenheim, Frankfurt beim Meister Dortmund, der in Feierlaune gerade in Bremen verloren hat. Lucien Favre ruft den Dortmunder Verteidiger Lukasz Piszczek an, die beiden kennen sich aus Berlin. Piszczek sagt: „Keine Sorge, Trainer, wir geben alles.“

In Hamburg geht Favre durch die Hölle. Zur Halbzeit führt Gladbach, Wolfsburg liegt zurück, Frankfurt hält ein Remis. Bei dieser Konstellation wäre die Borussia gerettet. Doch dann geht Frankfurt in Führung, Wolfsburg dreht das Spiel mit zwei Toren, Gladbach kassiert den Ausgleich und Favre realisiert, „dass wir tot sind, tot, mausetot“. Weil Piszczeks Dortmunder Wort halten und noch 3:1 gewinnen, reicht es noch zur kleinen Lösung. Platz sechzehn, Relegation. Favre spürt die Enttäuschung, „wir hatten mehr erhofft“, aber er darf sich nichts anmerken lassen. Noch in Hamburg schwört er das Team auf die Spiele gegen den Zweitligadritten Bochum ein.

Noch zwei Spiele mehr. Das Ziehen im Bauch nimmt zu. Am Telefon reagiert Favre unwirsch auf die Frage nach einem Interview über Bochums Trainer Friedhelm Funkel, seinen Nachfolger bei Hertha: „Muss das sein? Dafür habe ich jetzt gerade gar keine Nerven!“ Das erste Spiel gewinnt die Borussia daheim durch ein Tor in der Nachspielzeit.

Das Ziehen wird schlimmer.

Rückspiel in Bochum. Gladbachs Harvard Nordtveit unterläuft ein Eigentor. Gleichstand, das Publikum tobt. Favre spürt den Bauch nicht mehr, er ist taub, auch später nach der triumphalen Fahrt ins heimische Stadion, als die Gladbacher das späte 1:1 feiern, den Verbleib in der Bundesliga und, immer wieder, Lucien Favre.

Der Abstiegskampf hat ihn sechs Kilogramm Körpergewicht gekostet, „ich habe zehn Tage gebraucht, um nervlich wieder runterzukommen“. Das Ziehen im Bauch nimmt er mit in den Urlaub.

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