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Sport: Von Apfelsinen und fliegenden Schuhen

Die Fußballer aus Deutschland und Tschechien haben sich in der Vergangenheit einige unvergessliche Duelle geliefert

In der deutschen Länderspielgeschichte hat es schon vor dem gestrigen EM-Qualifikationsspiel zahlreiche Duelle mit dem Nachbarn Tschechien beziehungsweise der früheren Tschechoslowakei gegeben. Der Tagesspiegel erinnert noch einmal an die wichtigsten Spiele der beiden Fußball-Nationen.

Weltmeisterschaft 1934, Halbfinale, in Neapel: Tschechoslowakei – Deutschland 3:1

Bei der WM in Italien bestimmte die Politik das Spiel. Im Halbfinale von Neapel laufen die Deutschen im Stechschritt auf den Platz und grüßen mit erhobenem Arm ihren Führer. In vier Jahren wird das Deutsche Reich den tschechoslowakischen Staat zerschlagen, aber in diesem Spiel läuft es andersherum. Der tschechische Wundertorwart Frantisek Planicka, „die Katze von Prag“, hält jeden Ball, fast jeden, nur dem Hamburger Rudolf Nowak gelingt ein Tor zum zwischenzeitlichen 1:1. Die Tschechoslowaken aber haben Oldrich Nejedly, den Mann mit den gläsernen Knochen, der so oft verletzt ist, aber in diesem Spiel drei Tore schießt. Der deutsche Torhüter Willibald Kress soll dabei nicht besonders gut aussehen. Am Ende heißt es 3:1 für die Tschechoslowaken. Reichstrainer Otto Nerz ist darüber so erbost, dass er den Münchner Siggi Haringer nach Hause schickt. Der Verteidiger hatte sich die ungeheuerliche Disziplinlosigkeit geleistet, auf dem Bahnhof von Neapel eine Apfelsine zu essen. Nerz hatte seinen Spielern nur ein Glas Milch gestattet. Ohne Haringer, dafür mit dem Aachener Münzenberg, den Nerz vor Antritt seiner Hochzeitsreise nach Italien beordert, gewinnen die Deutschen das Spiel um Platz drei 3:2 gegen Österreich. Die Tschechoslowaken verlieren im Endspiel 1:2 gegen das faschistische Italien, weil Hitlers Freund Mussolini massiven Druck auf den Schiedsrichter ausübt.

Weltmeisterschaft 1958, Vorrunde, in Helsingborg: Deutschland – Tschechoslowakei 2:2

Die Deutschen wollen in Schweden den vier Jahre zuvor gewonnenen WM-Titel verteidigen, und nach dem 3:1 im Auftaktspiel gegen den Geheimfavoriten Argentinien gehen sie recht lässig in die Partie gegen den Außenseiter. Der aber bestimmt das Spiel und führt nach der ersten Halbzeit 2:0 durch Tore von Dvorak und Hovorka. Bundestrainer Sepp Herberger wählt für die zweite Halbzeit eine seltsame Taktik. Er lässt seine Mannschaft nicht stürmen, sondern den ballverliebten Künstlern aus Prag und Bratislava den Raum zum Zaubern. Eine kuriose Situation dreht das Spiel, und sie erinnert ein wenig an das 54er-Finale, als der Kölner Hans Schäfer den ungarischen Torhüter Grosics in der Luft attackiert und damit dem Berner Helden Helmut Rahn das Tor zum 1:2 ermöglicht. Diesmal drückt Schäfer den tschechischen Torhüter Dolejsi samt Ball über die Torlinie und lässt sich dafür als Torschütze feiern. Das 2:2 schießt – na klar – Helmut Rahn. Im Halbfinale werden die Deutschen beim 1:3 gegen Schweden selbst Opfer einiger seltsamer Schiedsrichterentscheidungen. Die Tschechen müssen nach einem 1:2 im Entscheidungsspiel gegen Nordirland schon nach der Vorrunde nach Hause fahren.

EM-Finale 1976, in Belgrad: Tschechoslowakei – Deutschland 2:2, 5:3 im Elfmeterschießen

Das EM-Finale von Belgrad hat zwei Helden: Der eine schafft es nach 120 kraftraubenden Minuten gerade mal so, den Ball in Richtung Tor zu schubsen. Der andere hat noch viel Kraft, er schießt scharf und hoch und weit über das Tor. Uli Hoeneß ist der tragische Held, und jede Geschichte über ihn beinhaltet den Passus: „… und drosch den Ball in den Abendhimmel über Belgrad.“ Die Deutschen, immerhin amtierender Weltmeister, haben durch späte Tore von Dieter Müller und Bernd Hölzenbein einen 0:2-Rückstand aufgeholt, sie sind moralisch im Vorteil, als es ins finale Elfmeterschießen geht, übrigens zum ersten Mal überhaupt bei einem internationalen Turnier. Bonhof, Flohe und Bongartz verwandeln souverän, die Tschechoslowaken Masny, Nehoda, Ondrus und Jurkemik aber auch, sie sind ein Tor vorn, als Hoeneß dran ist und dem Belgrader Abendhimmel zu immerwährender Berühmtheit verhilft. Nach dem tragischen Helden kommt der jubelnde, der clevere. Antonin Panenka läuft an, holt aus, verzögert, und schon fliegt Sepp Maier in die, von sich aus gesehen, linke Ecke, aber Panenka schießt gar nicht, er schiebt die Stiefelspitze unter den Ball, der mit wenig Tempo und viel Effet in die Mitte des Tore trudelt. Maier liegt hilflos auf dem Boden und schaut dem Ball mit wutverzerrtem Gesicht hinterher. Damit sind die Tschechoslowaken Europameister, aber für die Deutschen ist die Niederlage ein gutes Omen. Bis heute haben sie kein Elfmeterschießen mehr verloren. Panenka wird in den kommenden Jahren oft kopiert werden, aber nie in einer derart entscheidenden Situation. Herthas einstiger Held Marcelinho etwa wagt den Panenka-Trick mal gegen Borussia Mönchengladbach – kurz vor Schluss bei einer 5:0-Führung.

Weltmeisterschaft 1990, Viertelfinale, in Mailand: Deutschland – Tschechoslowakei 1:0

Selten dominiert eine deutsche Mannschaft eine Weltmeisterschaft derart wie 1990 in Italien. Und selten ist ein deutscher Trainer nach einem Sieg so erzürnt wie Franz Beckenbauer nach diesem Viertelfinale in Mailand. Lothar Matthäus, damals der beste Fußballspieler der Welt, erzielt früh das Führungstor, durch einen Elfmeter, den der genauso weit wie hoch und dramatisch fliegende Jürgen Klinsmann herausgeholt hat. Danach aber geht gar nichts mehr, die Tschechoslowaken lassen Ball und Deutsche laufen, auch nach einer Roten Karte gegen Moravcik. Es ist dies übrigens einer der kuriosesten Platzverweise der WM-Geschichte. Der Tschechoslowake ärgert sich über eine vergebene Torchance, er simuliert den missratenen Schuss noch einmal und steht plötzlich semibarfuß da. Sein offenbar schlecht geschnürter rechter Schuh fliegt in hohem Bogen über den Platz, interessiert verfolgt vom Schiedsrichter, der Moravcik wegen unsportlichen Verhaltens vom Platz schickt. Auch zehn Tschechoslowaken haben noch ein, zwei Chancen zum Ausgleich, und an der Seitenlinie springt Beckenbauer auf und ab, lässt die Faust durch die Luft rotieren und flucht allerlei nicht Druckbares. Seine Spieler besänftigten den Herrn Teamchef mit zwei folgenden Siegen über England und Argentinien und dem WM-Titel.

EM-Finale 1996, in London: Deutschland – Tschechien 2:1 nach Golden Goal

Drei Premieren sieht das EM-Finale in Wembley. Die Tschechen treten nach der staatlichen Trennung von den Slowaken alleine an. Genauso erstmalig ist, dass das Finale die Neuauflage eines Vorrundenspiels ist. Das erste Aufeinandertreffen in Manchester haben die Deutschen 2:0 gewonnen, dank Toren von Andreas Möller und Christian Ziege. Sieben Minuten vor Schluss, als längst alles entschieden ist, wird Oliver Bierhoff eingewechselt. Der Stürmer ist hinter Klinsmann, Kuntz und Bobic vierte Wahl, und dass er im Endspiel in Wembley noch einmal eingewechselt wird, hat er vor allem dem unglaublichen Verletzungspech seiner Kollegen zu verdanken. Es ist kein anderer mehr da. 21 Minuten vor Schluss führen die Tschechen durch Bergers verwandelten Elfmeter 1:0, da kommt er für Mehmet Scholl und köpft gleich ein zum Ausgleich. Dabei bleibt es bis zum Schluss, aber anders als zwanzig Jahre zuvor müssen die Deutschen diesmal nicht ins Elfmeterschießen (so eines haben sie gerade im Halbfinale gegen England gewonnen). Der Europäische Fußballverband Uefa hat verfügt, dass das erste Tor in der Verlängerung entscheidet. Das ist die dritte Premiere. Natürlich schießt Oliver Bierhoff dieses Tor, Torhüter Kouba sieht schlecht aus, ganz schlecht, aber niemand wird später von Kouba reden. Bierhoff ist der Mann, über den man heute noch redet, weil er das erste Golden Goal bei einem internationalen Turnier für A-Nationalmannschaften geschossen hat. Über das Golden Goal redet heute keiner mehr, es ist längst abgeschafft worden, über die nicht minder unselige Variante des Silver Goals (dem 2004 bei der EM in Portugal ebenfalls die Tschechen zum Opfer fallen) ebenso wenig. Oliver Bierhoff aber ist ein Held geblieben. Nicht mehr als Spieler, dafür als Manager der Nationalmannschaft.

Europameisterschaft 2004, Vorrunde, in Lissabon: Tschechien – Deutschland 2:1

Deutschland muss gewinnen, um bei der EM in Portugal das Viertelfinale zu erreichen, und passend dazu bietet Tschechiens Trainer Karel Brückner eine B-Mannschaft mit neun Ersatzspielern auf. Er ist bereits für die nächste Runde qualifiziert und schont das Stammpersonal. Das erbost die Holländer, die zeitgleich gegen Lettland spielen und bei einem deutschen Sieg nach Hause müssten. Es fängt gut an im Estadio José Alvalade. Michael Ballack trifft mit schönem Fernschuss zum 1:0, aber Marek Heinz, dem Bundesligaversager aus Hamburg und Bielefeld, gelingt schnell der Ausgleich. Später wechselt Brückner noch einen dritten Spieler aus seiner Stammbesetzung ein, und dieser Milan Baros erzielt das 2:1-Siegtor für die Tschechen. Die Deutschen müssen sich jede Menge Spott anhören, aber mittelfristig wendet sich für sie alles zum Guten. Teamchef Rudi Völler tritt zurück, und sein Nachfolger Jürgen Klinsmann räumt auf beim DFB, so intensiv, dass man die Mannschaft zwei Jahre später bei der WM daheim in Deutschland gar nicht wiedererkennt, obwohl der Stamm beisammen bleibt. Und die Tschechen? Sie siegen zwar 4:0 im Viertelfinale gegen Dänemark, verlieren dann aber im Halbfinale 0:1 gegen Griechenland, wiederum durch eine Premiere, das erste Silver Goal der Geschichte. Nach dieser neuen Regel wird in der Verlängerung bei einem Tor noch die entsprechende Halbzeit zu Ende gespielt. Verteidiger Dellas erzielt dieses Tor in der Nachspielzeit der ersten Verlängerungshalbzeit im Estadio Dragao zu Porto. Zwei Jahre später bei der WM in Deutschland sind die Griechen nicht dabei, die Tschechen scheiden in der Vorrunde aus und die Deutschen werden umjubelter Dritter.

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