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Noch fünf Mal schlafen bis zum WM-Finale. Manuel Neuer, 28 Jahre, 50 Länderspiele, kann es kaum erwarten.

© dpa

WM 2014 - Halbfinale Deutschland - Brasilien: Manuel Neuer: „Ich bin also kein Thomas Müller“

Torwart Manuel Neuer spricht im Interview vor dem WM-Halbfinale Deutschland - Brasilien über seine innere Ruhe, Stadionpunkte, die Rolle der Torhüter in diesem Turnier - und die Favoritenrolle nach dem Ausfall von Neymar.

Manuel Neuer, warum wird es im Halbfinale nicht mal dem brasilianischen Publikum gelingen, Sie aus der Ruhe zu bringen?

Weil ich mich gerade auf solche Spiele ganz besonders freue. Die Atmosphäre wird grandios sein. Schon deshalb wird es etwas ganz Besonderes werden. Und dann dazu in einem so wichtigen Spiel gegen Brasilien, gegen den WM-Gastgeber spielen zu dürfen – da geht ja fast nichts drüber. Diese Konstellation wäre auch absolut finalwürdig.

Bisher waren die Brasilianer herzerfrischend freundlich der deutschen Mannschaft gegenüber. Das dürfte sich nun ändern.
Es ist doch so: Alle Brasilianer wollen, dass ihr Team ins Endspiel einzieht und die Chance erhält, um den Titel zu spielen. Aber das wollen wir auch. Darum geht es doch am Ende. Aber wissen Sie, worauf ich mich noch freue?

Sie werden es uns sagen.
Ich freue mich darauf, wieder ein neues Stadion kennenzulernen, weil ich nebenbei noch ein paar Stadionpunkte sammeln kann.

Sie haben ja wirklich die Ruhe weg …

Kann schon sein, aber ich will dieses Neue, die Erlebnisse, die uns hier durch dieses Turnier begleiten, einfach aufsaugen.

In Deutschland sind Sie der neue coole Held. Inwiefern bekommen Sie etwas von dem Hype in der Heimat mit, der um Sie entstanden ist?
Puh. Also ich hab's mitgekriegt, da viele aus dem Freundes- und Bekanntenkreis mir einiges rübergeschickt haben, was ich hier sonst nie wahrgenommen hätte. Ich bin ja nicht der Spieler, der immer alles liest oder im Internet recherchiert. Ich bin also kein Thomas Müller, der nach dem Spiel immer alles liest, weil er auf dem neuesten Informationsstand sein möchte, damit er überall mitreden kann (lacht). Also: Mir wird es oft zugetragen, aber ich beschäftige mich nicht großartig damit.

Fürchten Sie, dass es Sie ablenken würde?
Nein, das nicht. Ich sehe mich als erstes als Teamspieler. Auch wenn sich das vielleicht langweilig anhört, aber für mich ist das Team der Star.

In welcher Spielweise erwarten Sie denn die Mannschaft der Brasilianer?
Generell war über den Turnierverlauf schon zu sehen gewesen, dass sie zum Teil sehr aggressiv spielen. Sie gehen richtig gut in die Zweikämpfe rein. Auch wir werden diesen Stil grundsätzlich erwarten können. Aber dadurch, dass Neymar ausfällt, was ich sehr bedauere, wird ihr Spiel nicht ganz zu vergleichen sein mit ihren Spielen zuvor. Da war doch schon sehr viel auf ihn ausgelegt. Jetzt dürfte sich ihr Spiel auf mehrere Schultern verteilen. Das ist ja auch bei uns so, dass wir nur zusammen stark sind.

Werden Sie Ihre Spielweise anpassen müssen?
Das wäre nicht neu für mich. Ich habe ja auch schon zum Viertelfinale hin mein Spiel den Gegebenheiten angepasst. Da war es nicht so, dass ich große Ausflüge wie im Achtelfinale gegen Algerien unternehmen musste. Gegen Frankreich war eher mein normales Torwartspiel im Strafraum gefragt. Letztlich wird es das Spiel zeigen.

Bisher spielten die Torhüter eine wichtige Rolle bei dieser WM. Ist es ein Turnier der Torhüter?
Die Rolle der Torhüter ist hier schon tragend. Wir haben viele gute Leistungen gesehen. Jedenfalls mehr als vor vier Jahren. Auffallend ist auch, dass bei kleineren Fußballnationen die Klasse der Torhüter gestiegen ist. Das freut mich sehr, denn ich gucke immer sehr genau hin – man lernt nie aus.

Haben Sie sich schon etwas abgeguckt?
Das ist sehr situativ. Ich habe das schon früher gemacht, wenn ich mir die Sendung „Eurogoals“ angeschaut habe. Dabei interessierten mich weniger die Tore, um die es eigentlich ging, ich studierte das Verhalten der Torhüter. Ich suchte mir immer die Aspekte raus, von denen ich glaubte, dass sie mich weiterbringen. Und so sehe ich mir auch hier die Spiele an, indem ich mich immer in die Lage der Torhüter versetze.

"Ich bereite mich immer auf Standards vor - auch auf Elfmeter"

"In einem Halbfinale kommt es auf die Tagesform an"

Vor dem entscheidenden Elfmeterschießen wechselten die Holländer ihren Torwart aus. Wäre das für Sie vorstellbar?
Vorstellbar ist es, wie Holland zeigt. Aber ich glaube, dass das bei uns auf keinen Fall eintreten wird. Da wir ja einen sehr intelligenten Trainer haben, würde er mit Sicherheit sein Wechselkontingent für Feldspieler nutzen. Also ich gehe mal fest davon aus, dass ich nicht in der 119. Minute ausgewechselt werde.

Wie bewerten Sie eigentlich das Verhalten des holländischen Torwarts Tim Krul, der die Elfmeterschützen verbal, aber sehr aggressiv zu beeinflussen versuchte?
Dafür ist der Schiedsrichter da, solche Dinge zu unterbinden. Oder sie gehen noch in Ordnung. Viel wichtiger ist, dass der Schiedsrichter während des Spiels einen guten Job macht, dass er also neutral ist. Schon wegen der Atmosphäre und der harten Zweikämpfe, die mit Sicherheit geführt werden. Auch darauf wird es ankommen. Denn: Brasilien ist heiß, aber wir sind es eben auch.

Halten Sie ein Elfmeterschießen für möglich?
Ich habe neulich das Elfmeterschießen der Brasilianer gegen Chile gesehen. Das hatte was. Aber ganz grundsätzlich bereite ich mich vor K.-o.-Spielen auf Standards vor, also auch auf Elfmeter.

Wem trauen Sie dabei mehr: der Datenbank oder Ihrer Intuition?
Das gehört ja irgendwie beides zusammen. Letztlich muss man auf sich hören, auf die Stimme von innen. Da kann man nicht bloß nach einem Papier, nach einer Statistik gehen, du musst ein gutes Gefühl bei der Entscheidung haben und diese dann auch durchziehen. Wenn der Andi Köpke…

… der Bundestorwarttrainer…
… jetzt zu mir sagt, also dieser Spieler hat sieben Mal rechts geschossen und ich springe trotzdem nach links, dann ist das meine Entscheidung. Und die wird mir auch gelassen.

Haben Sie im Mai nach Ihrer Verletzung eigentlich mal Momente des Zweifelns durchlebt?
Eigentlich nicht, aber gute Frage. Vielleicht in der Zeit direkt nach dem Pokalsieg, nachdem es passiert war. Die Zeit bis zur Kernspinuntersuchung, als den Ärzten und mir die Aufnahmen vorlagen. Also 48 Stunden ungefähr. Das war die Zeit einer kleinen Unsicherheit. Aber als ich die Bilder sah und sie mir interpretiert wurden, hatte ich schon wieder ein klares Ziel: die WM.

Das andere Halbfinale bestreiten Argentinien und Holland. Sind das Ihrer Meinung nach die vier Mannschaften, die sich zurecht durchgesetzt haben?
Normalerweise geben die Ergebnisse den Mannschaften Recht. Klar, wenn man vor dem Turnier steht, glaubt man nicht, dass Spanien, Italien und England so früh ausscheiden. Dann fragt man sich schon: Warum? Wie kann das passieren? Es sollte halt so sein. Denn ich denke nicht, dass es hier irgendwelche Geschenke gab. Die Mannschaften, die jetzt da stehen, mussten sich das hart erarbeiten.

Brasilien hat Neymar verloren, ist Deutschland jetzt der Topfavorit auf den Titel?
Alle vier Halbfinalisten sind stark. In einem Halbfinale kommt es auf die Tagesform an. Wir haben jetzt zweimal in Halbfinals, 2010 und 2012, nicht eine so gute Tagesform gehabt. Also hoffen wir einfach mal auf einen guten Tag.

Was spricht für die deutsche Mannschaft?
Dass wir uns gesteigert haben im Turnierverlauf. Gut, gegen Ghana haben wir 2:2 gespielt, aber sonst haben wir immer verdient gewonnen, und wir waren auch jeweils die bessere Mannschaft auf dem Platz. Gegen Algerien haben wir den Kopf aus der Schlinge gezogen, gegen Frankreich waren wir stark. Ich halte es für möglich, dass wir uns jetzt in einen kleinen Lauf spielen können.

So dicht vor dem Finale spielt die Psyche eine entscheidende Rolle. Wann formen sich in Ihrem Kopf die ersten Bilder – beim Erklingen der Hymne?
Ich habe gar nicht so viel Zeit darüber nachzudenken so nah vor dem Spiel. Da greifen doch meist Automatismen.

Erscheinen Ihnen denn vorher die vielen gelben Trikots?
Klar sieht man die irgendwann vor sich. Aber wenn ich beim Mittagessen bin, denke ich nicht an gelbe Trikots. Vielleicht geht es anderen so, ich bin da relativ ruhig. Ich finde es wichtig, dass wir an unsere Stärke glauben und uns durch nichts aus der Ruhe bringen lassen. Natürlich ist das ein besonderes Spiel gerade für Brasilien, ich weiß nicht, ob wir Vergleichbares schon einmal erlebt haben. Aber darauf kann man sich doch freuen. Man muss einfach nur denken, dass das weiße Trikots sind, auch wenn es gar nicht stimmt.

Interview: Michael Rosentritt

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