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Im Licht. Claudia Roth, 62, porträtiert von der Berliner Fotografin Laurence Chaperon auf einer Club-Bühne in Prenzlauer Berg.

© Laurence Chaperon

Claudia Roth: Aufhören? Geht gar nicht!

Claudia Roth hat fast ihr ganzes Leben in der Politik verbracht. Viele nervt sie schon sehr. Aber die Vizepräsidentin des Parlaments ist stolz darauf.

Wer beim Kampf gegen den Klimawandel vorne mit dabei sein will, muss auch Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen. Claudia Roth sitzt auf schneeweißen Lederbezügen auf der Rückbank ihrer Plug-in-Hybrid-Limousine, die der Fahrer durchs Ruhrgebiet lenkt. Auf dem Sitz neben sich ein Gebirge aus Tüten und Taschen, Kleidersack und Handtasche. Ist das etwa das Divengepäck?

Falsch, dies ist der Bus einer Grünen auf Wahlkampftour, ihre Heimat für Wochen. Der Kofferraum ist schon mit der Energiewende besetzt, Lithium-Ionenbatterie. Für den Wahlkampf im Mai haben die NRW-Grünen die Bundestagsvizepräsidentin ausgeliehen. Eine Fackelträgerin der Glaubwürdigkeit, und nie Probleme mit den Flugmeilen!

"Eigentlich bin ich ein Road-Movie", hatte Claudia Roth einige Tage vorher gesagt. "Auch von innen her." Es gebe keinen Ruhepol. Ihr Büro mit Blick auf den Reichstag war angefüllt mit farbigen Teppichen, Möbeln, Vasen, Geschenken, Erbstücken und Charakter-Sesseln einer Frau mit großer Furcht vor Beamtengrau. Dann sagte sie: "Wenn ich nicht mehr auf Tour bin, dann bin ich tot." Man lachte über diese Übertreibung. Aber sie sagte: "Wirklich."

Sie ist ein offenes Buch - in dem jeder etwas anderes liest

Claudia Roth, die ihr Herz auf der Zunge trage, sei ja ein offenes Buch, heißt es – und doch liest jeder etwas anderes darin. Die einen sind voller Bewunderung, andere stöhnen, sobald ihr Name fällt. Doch während die Grünen mit neuerdings überall anschlussfähigem Polit-Personal beliebig wirken, erfährt Claudia Roth in ihrer Rolle als Bundestagsvizepräsidentin Bewunderung. Bekennende Nervensäge, glaubwürdig gerade deshalb.

Wer so lange angefeindet wird, wird irgendwann dafür bewundert, nicht umzufallen. Wie funktioniert das? Woher kommt diese Energie? Kann jemand immer echt sein? Und was ist der Preis?

Ach, was heißt es schon, zwischen seinen Tüten und Taschen sitzen zu müssen, wenn man dafür einen Lithium-Ionen-Akku im Kofferraum hat! Jede Fahrt ist eine Testfahrt in die Zukunft und deshalb auch eine Fahrt im Kampf mit den Teufeln des Details. Welche Hotels haben eine Steckdose? Es geht um Ladezeiten, Stecksätze, e-Säulen. Wie rechnet man den Strom mit dem Bundestag ab? Der Pfarrer in Dillingen hat einfach ein Kabel aus seinem Fenster gehängt. Roth ist stolz darauf, in ihrem Amt den Kontakt zum wirklichen Leben nicht ganz verloren zu haben. Neun Kilowattstunden Strom kosten 2,70 Euro.

Sie arbeite bis zum Anschlag, sagen ihre Mitarbeiter

Es hat bei Claudia Benedikta Roth, 62, noch nie ausgereicht, nur auf die bunten Kleider zu gucken. Sie hat ein intensives Leben in der Politik geführt, im Munzinger-Archiv wird es schon mit "Wirken" beschrieben. Bis 2013 war sie Bundesvorsitzende der Grünen. Sie hat mitregiert und so viel gearbeitet, dass sie zu Hause die Glühbirnen nicht mehr fand. Immer informiert, was in welcher Talkshow gesagt wurde. Ihren Mitarbeitern ist es ein Rätsel, wann sie diese noch sieht. Sie glauben, es muss in den Nachtstunden sein, wenn sie selbst ihr bisschen Privatleben leben.

Claudia arbeitet bis zum Anschlag, sagen ihre Leute. Dann sinkt ihr Kopf auf den Ärmel ihres Escada-Mantels und hinterlässt dort eine Spur Make-up. Sie ist sogar mal zum Neurologen gegangen, weil sie dachte, sie kriegt Alzheimer, erzählt sie. Der hat nur laut gelacht und ihr gesagt, sie solle einmal eine halbe Stunde ohne Ziel spazieren gehen.

Aber jetzt wartet Dortmund, es ist elf Uhr früh am Sonntag. Deutschland schläft aus, das Stadtfest ist noch nicht richtig im Gange. Roth erinnert sich an ihre Zeit im Schauspielhaus hier, noch bevor sie die Band "Ton, Steine, Scherben" managte. Sie steuert auf einen Bierstand zu. "Ich kenne Sie aus dem Fernsehen", sagt der Mann, der noch die Gläser poliert. "Und, wie heiße ich?" fragt sie. Es klingt ein bisschen, als solle der Mann nun Pfötchen geben. Er kommt noch nicht drauf. "Na, wie heißt ’ne Grüne?" – "Roth!" Katsching!

Claudia Roth grüßt am Stand der Abrahamsreligionen und nimmt dann die Aidshilfe ins Visier. Neben zwei schwulen Männern steht ein Hund. Der sei auch schwul, sagen die beiden. Ja, sagt Roth, ihre Mutter habe auch einen schwulen Hund gehabt, der sei dann später bisexuell geworden, allerdings erst im Alter. Die Männer stehen da, irgendwo zwischen bewundernd und mundtot. Hat Claudia Roth sie da eben mit einem queeren Hund übertrumpft? Mit zwei Sätzen sind sie eingesponnen in den Roth’schen Kokon, ihr roth-buntes Garn. Sie haben jetzt etwas mit Roths Mutter am Hut.

Die Leute sagen: Wahnsinn, ein Mensch im Bundestag

Es ist eine faszinierende Technik. Aus dem Spannungsfeld ihrer Prominenz heraus schießt Roth einen präzisen Pfeil auf die Zuhörer. Meist ist es eine Art Amor-Pfeil, der eine persönliche Verbindung herstellt. Jeder Schuss ein Treffer. Mehrere ältere Frauen, die für Brustkrebspatientinnen Kissen in Herzform nähen, schauen erwartungsvoll. Ja, der Brustkrebs, sagt Roth. Davon werde sie ihrer Schwester erzählen, die bemerke als Ärztin auch, dass die Zahlen so nach oben schießen. Auch die Kissennäherinnen sind nun verbunden mit der Familie Roth. Sie flirtet kurz in einen Polizeiwagen hinein, taucht wieder auf: "Er hat gesagt, man sieht’s mir nicht an. Ich sage aber nicht, was." – "Die ist so!", sagen die Leute bewundernd. Wahnsinn, ein Mensch im Bundestag.

Claudia Roth sitzt wieder im Wagen, dieses Mal Richtung Münster zur sonntäglichen Pulse-of-Europe-Demonstration. Das eben sei natürlich sehr schön gewesen, sagt Roth, zeichne aber ein einseitiges Bild. Denn so ausufernd wie die Sympathien auf dem Marktplatz sei eben auch der Hass im Netz. Auf Facebook wird ihr regelmäßig empfohlen, auszuwandern. Hassmails mutet ihr Büro ihr nur in homöopathischen Dosen zu. Vielleicht hält sie das nur aus, weil sie nie um jeden Preis dabei sein wollte.

Das Kind, erzählt sie, war von Grund auf daran gewöhnt, nicht zur Mehrheit zu gehören. Sie lebt in Babenhausen, Bayern, "aber wir waren halt nicht bei der CSU". Die Eltern lesen den "Spiegel", Claudia ist zur Einschulung das einzige Kind ohne zuckrige Schultüte, denn der Vater ist Zahnarzt. Sie bekommt eine Kette mit Engeln dran. Auf den Plattentellern der Eltern drehen sich Ella Fitzgerald und die Beatles. Das Kind macht Abi mit 1,5. Und dann sagt die Mutter: "Bind dich nicht zu früh."

"Ich glaube, dass das alles in mich reingepflanzt ist", sagt Claudia Roth. Anders sein ist normal. Widerstand zu leisten ist nötig, der Preis ist zu zahlen. So bleibt man aufrecht.

Vielleicht ist Ali Mahdjoubi der Mann, der sie am besten kennt. Abgeordnetenbüros haben einen hohen Verschleiß an Mitarbeitern, normalerweise bleiben Leute zwei bis drei Jahre. Doch Mahdjoubi ist schon 18 Jahre dabei, seit dem Regierungsumzug 1999 nach Berlin. Ihrer beider Freundschaft ist so ungewöhnlich, dass sie Eingang in ein Buch über Freundschaften gefunden hat.

Sie sei "fast pathologisch treu"

Am eigenen Leibe hat er gespürt, wie Roth ihre Themen großflächig mit ihrer Person verwachsen lässt. Mahdjoubi war Kreiskassierer der Grünen in Bonn, geflüchtet aus dem Iran. Klar, er war ein heller Kopf, aber Roth faszinierte auch seine Geschichte, dessen Vater, der zur Schah-Zeit im Gefängnis saß. Ihr Interesse an ihm war so eingehend und echt, sie wollte alles über seine weltweit verstreute Familie hören. Es war das Thema Asyl im echten Leben. Mahdjoubi war überrascht von der Geschwindigkeit, mit der er nach Bayern zu ihrer Mutter und Schwester eingeladen wurde. "Teil der Familie zu sein, kann in einem Büro mit einer 70-Stunden-Woche eine zusätzliche Belastung sein. Und Anerkennung zugleich." Er hat selbst sechs Schwestern und drei Brüder, aber die besucht er nicht. Stattdessen organisierte er die Reisen zu den Familiengeburtstagen der Roths. Er muss lachen. So ist sie.

Oder die Kurden. Ursprünglich ging es um die Rettung von Schildkröten, die in der türkischen Riviera Eier legen, erzählt Mahdjoubi. Die Grünen, es waren die 80er, wollten das Meer als Brutstätte schützen. Ihr seid verrückt, hieß es dort. Die Menschen brauchen euren Schutz mehr als Schildkröten. Roth fand das auch. Als Europa-Abgeordnete ist sie wieder hingefahren. 1990 ging sie in den Unterausschuss Menschenrechte. 2003 hat sie in der Türkei ein Haus gekauft. Ali Mahdjoubi sagt, sie sei "fast pathologisch treu". Das gelte für Menschen wie Themen. Politik ist eine Bühne. Claudia Roth tritt dort im selbst entworfenen Kostüm auf. Die Themen sitzen ihr wie maßgeschneidert auf der Haut.

Die Leute lieben diese Nahbarkeit. Der Preis: vollkommene Distanzlosigkeit. Null Privatsphäre. "Sie kann nicht mehr alleine Zug fahren", sagt Mahdjoubi. "Alleine ist sie ausgeliefert." Jeder fühle sich berufen, sie zu loben und zu tadeln. Natürlich liegt das auch an ihr. "Sie ist nie zu. Das ist auch ein Problem." Mahdjoubi hatte vor einigen Jahren seinen Erkenntnismoment in einem Café am Winterfeldtplatz. Draußen kam Renate Künast mit ihren Einkäufen vorbei. Niemand sprach sie an, weil sie nicht angesprochen werden wollte. Für Claudia Roth wäre das undenkbar. Es ist, als dürfe man ihr jederzeit zu nahetreten. Von Anfang an bekam sie handschriftliche Briefe: So viel Schminke im Gesicht sei nicht umweltverträglich. Man darf sie fragen, warum sie so lange Single ist, man darf sie schrill nennen und im Netz beschimpfen. All das ist irgendwie eingerissen. Merkwürdigerweise definieren viele Leute sie immer über das, was fehlt. Oder fehlen sollte. Sie ist schon über 60, aber sie wird noch immer gefragt, ob "der Richtige" noch nicht gekommen sei.

Wer nervt mehr als Claudia? Mit dieser Frage macht sie Wahlkampf

Klar, alle zahlen einen Preis für ihr Leben in der Politik. Vielleicht ist der Unterschied, dass Claudia Roth darüber redet. "Ich habe keine Anker", sagt sie. Und meint doch bloß, dass sie nicht jeden Abend in dieselbe Wohnung zu demselben Menschen zurückkehrt. Roth lebt in Charlottenburg, außerhalb der Sitzungswochen in einer WG mit alten Freunden in ihrem Wahlkreis in Augsburg – und ansonsten in den Hotels der Welt.

Dabei übersehen viele, wie Roth ihr Leben in der Politik durch Persönliches aufgeladen hat. Die Politik ist ihr Leben, also muss da Platz sein für Freundschaft, Charme und Unberechenbarkeit, für Anteilnahme und geballte Subjektivität. Ihre legendäre Großzügigkeit zum Beispiel. "Viele Grüne lieben Sparen", sagt Mahdjoubi. Roth nicht. Das nimmt manchmal seltsame Formen an. Im Bundestag gehen vier Abgeordnete miteinander essen, alle verdienen gut, aber Claudia Roth zieht immer am schnellsten.

Roth hat nie versucht, sich in das Korsett des willfährigen Politikers zu zwängen. Man schimpft sie "Gutmensch". Sie sagt, ja, sie sei gerne einer. Was denn an guten Menschen schlecht sein soll?

"Heulsuse" sagen sie. Ja, sagt sie, ich weine. Wer bei so schlimmen Dingen nicht weint, der ist kein Mensch!

"Nervensäge" nannten sie die Parteichefin. Ja, Politik muss nerven, sagt sie. Warum sollte man gleich einknicken? 2012 setzte sie noch einen drauf und ließ ein ironisches Plakat drucken: "Wer nervt mehr als Claudia?"

"Naiv" hört man oft. Ja, sie wolle ihre Positionen nicht aufgeben. Wer das tut, wird austauschbar. Im Übrigen sei das keine Naivität, sondern aktiver Widerstand.

"Jeder in der Politik wird auf eine Art zum Junkie"

Claudia Roth sagt "ja" zum Inhalt jeden Vorwurfs. Genau so sei es. Aber sie sagt zugleich: Das ist doch gar kein Vorwurf. Ich will nicht anders sein.

Es muss recht schmerzhaft sein, aber auf diese Art werden die Steine, mit denen man sie bewirft, zu ihrem stabilen Fundament. Sie ist uneinnehmbar geworden, alle Anwürfe sind nun Teil der Verteidigung. Der weiße Hybrid ist vor ihrem Hotel in Münster ausgerollt. Gute Hotelzimmer sind ihr "Lebenselixier", sagt sie. Weil sie da einfach gepflegt umfallen kann. Es ist kurz vor vier, sie hat nur gefrühstückt. Sie bestellt einen "Swiss Doodle", wie immer im Mövenpick, denn auch dem Swiss Doodle ist sie treu, einem Eisbecher mit karamellisierten Walnüssen, den sie liebt, seit sie hier in Dortmund Jugendtheater gemacht hat.

Alles ist wie immer, die Leute gucken. Claudia Roth fährt mit dem Löffel in die Sahne und sagt, natürlich fragt sie sich, was mit ihr passiert, wenn Leute einmal nichts mehr von ihr wollen. "Jeder in der Politik wird auf eine Art zum Junkie." Der erste große Einschnitt war schon da, als sie 2013 den Parteivorsitz abgab. "Ich hatte Angst, jetzt kommt ein kalter Entzug. Du bist abgeschaltet." War ihr Roadmovie hier zu Ende?

Ganz im Gegenteil. Aber nicht sie, die Welt habe sich verändert. Sie steht nicht mehr in vorderster Front, aber etwas völlig Neues ist eingetreten: Zuletzt hat sie bei einem Empfang Standing Ovations gekriegt. Sie ist jetzt eine Respektsperson, Repräsentantin des Bundestags.

Die Tour geht weiter.

Der Text erschien in der "Agenda" vom 27. Juni 2017 - einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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