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Bloß nichts unter den Teppich kehren. Die Grünen haben ihren Umgang mit Pädophilie in den 80er Jahren untersuchen lassen. Die Partei reagierte damit auf Vorwürfe vor der Bundestagswahl. Foto: Carsten Rehder/dpa

© picture alliance / dpa

Pädophilie-Debatte: Die Grünen arbeiten ihre Geschichte auf

Die Pädophilie-Debatte hat den Grünen im letzten Wahlkampf schwer geschadet. Inzwischen hat die Partei das Thema umfassend aufarbeiten lassen und zieht nun Bilanz.

Für die Grünen war es verheerend. Ausgerechnet die Partei, die gerne mit hohem moralischen Anspruch auftritt, wurde im Bundestagswahlkampf 2013 von ihrer Vergangenheit eingeholt. In den Gründungsjahren Anfang der 80er waren sie als Sammelbewegung anfällig gewesen für pädophile Forderungen, die sich im ersten Parteiprogramm ebenso wiederfanden wie in Wahlprogrammen auf Landesebene. Bis zum Sommer 2013 war das kaum jemandem klar gewesen, selbst vielen Parteimitgliedern nicht. Die Quittung dafür gab es im Herbst: Den Absturz bei der Bundestagswahl führt man in der Parteispitze auch auf die Pädophilie-Debatte zurück, die bei den Wählern Vertrauen gekostet hat.

Ein Jahr nach der Wahl ziehen die Grünen Bilanz. Am Mittwoch stellt der Göttinger Parteienforscher Franz Walter, der in den vergangenen anderthalb Jahren „Umfang, Kontext und Auswirkungen“ pädophiler Forderungen in den Milieus der Grünen untersucht hat, seinen Abschlussbericht vor, zusammen mit Grünen-Chefin Simone Peter. Die wiederum präsentiert gut eine Woche später auf dem Parteitag in Hamburg einen ersten Bericht der parteiinternen Kommission, die sich ebenfalls seit der Bundestagswahl mit dem Thema auseinandergesetzt hat.

Die Vorwürfe und Fragen haben dazu geführt, dass die Grünen sich in einer Intensität mit ihrer Geschichte auseinandersetzen mussten wie nie zuvor. Doch im vergangenen Sommer wurde auch ein Prozess angestoßen, der sich für die Partei am Ende womöglich auszahlen könnte.

Einordnung in die Debatten der 70er und 80er Jahre

Im Juni 2013, drei Monate vor der Wahl, beauftragte der Grünen-Bundesvorstand den Göttinger Forscher Walter mit der Aufarbeitung. Gut 209.000 Euro musste die Partei dafür zahlen. Mit Walter engagierten die Grünen bewusst jemanden, der nicht im Verdacht steht, Gefälligkeitsgutachten zu schreiben. Doch was als Flucht nach vorne gedacht war, ging erst einmal nach hinten los. Zwei Wochen vor der Wahl machte Walter publik, dass der Spitzenkandidat der Grünen, Jürgen Trittin, als presserechtlich Verantwortlicher unter dem Göttinger Kommunalwahlprogramm aus dem Jahr 1981 stand, in dem Straffreiheit für angeblich einvernehmlichen Sex zwischen Erwachsenen und Minderjährigen gefordert wurde. Die Anfeindungen, die grüne Wahlkämpfer danach an den Ständen erlebten, demotivierten viele.

In die Landtagswahl 1980 zogen die Grünen in Nordrhein-Westfalen mit diesem Plakat. Und die Bundespartei nahm Forderungen in ihr Programm auf, Sex zwischen Erwachsenen und Kindern unter bestimmten Bedingungen straffrei zu stellen.
In die Landtagswahl 1980 zogen die Grünen in Nordrhein-Westfalen mit diesem Plakat. Und die Bundespartei nahm Forderungen in ihr Programm auf, Sex zwischen Erwachsenen und Kindern unter bestimmten Bedingungen straffrei zu stellen.

© Abbildung: Grüne NRW

Kurz nach der Wahl beschloss die Partei, eine eigene Kommission einzusetzen, die nicht nur nach außen, sondern auch nach innen wirken sollte. „Die Grünen haben viele neue Mitglieder, die erst in den letzten Jahren zu uns gekommen sind. Viele haben im Wahlkampf 2013 erschrocken festgestellt, welche Forderungen die Partei Anfang der 80er zur Straffreiheit pädophiler Beziehungen erhoben hatte. Auch mir war das in dieser Tragweite nicht bekannt“, sagt Peter. Ähnlich ging es der Familienpolitikerin Katja Dörner, die Mitglied der Kommission ist. „Für mich war die ganze Debatte ein Schock. Ich habe ja selbst nicht glauben können, dass es bei den Grünen solche Beschlüsse gegeben hat“, sagt die 38-jährige Bundestagsabgeordnete. Umso wichtiger sei die konsequente Aufarbeitung, die Einordnung in die Debatten der 70er und 80er Jahre und die klare Distanzierung von den damaligen Beschlüssen.

Um vor unangenehmen Überraschungen gefeit zu sein, beschlossen auch viele Landes- und Kreisverbände, die Aufarbeitung selbst in die Hand zu nehmen. „Auf den Abschlussbericht von Professor Walter wollten wir nicht warten, sondern uns selbst ein Bild machen und unseren Beitrag zur Aufarbeitung leisten“, sagt die Hamburger Landeschefin Katharina Fegebank. Oft war es nicht einfach nachzuvollziehen, welche Debatten Anfang der 80er geführt wurden. „Ein Problem bei der Recherche war, dass die Archive vor Ort mangelhaft waren oder Dokumente aus den Gründerjahren teilweise gar nicht mehr vorhanden sind. In den Kreisverbänden sind in den letzten Jahrzehnten nicht alle Unterlagen systematisch abgeheftet worden“, sagt der niedersächsische Landeschef Jan Haude. Manche Dokumente ließen sich in den Archivbeständen des Landesverbands finden, andere nur in Privatarchiven. Das Ergebnis ihrer Recherche veröffentlichten die niedersächsischen Grünen vor wenigen Tagen, Landesverbände wie Berlin sind noch mit der Aufarbeitung beschäftigt.

Nach der Wahl setzte ein Umdenken ein

Um besser verstehen zu können, wie die Beschlüsse von damals zustande kamen, befragten die Grünen im Bund und den Ländern Zeitzeugen: Jürgen Trittin ebenso wie Daniel Cohn-Bendit, der mit provozierenden Passagen zur kindlichen Sexualität in einem 1975 veröffentlichten Buch als Auslöser für die Debatte gilt. Befragt wurden Vertreterinnen der Frauenbewegung, die sich damals gegen pädophile Strömungen zur Wehr setzten, sowie Vertreter der Schwulenbewegung, bei denen Pädophilen-Aktivisten mehr Erfolg hatten, mit ihren Forderungen anzudocken. Zeitzeugen waren Rechtspolitiker wie Wolfgang Wieland oder Renate Künast, auch weil es schon vor der Gründung der Grünen unter Juristen Debatten über das Sexualstrafrecht gegeben hatte.

Im Wahlkampf hatten die Grünen sich gewehrt, eine Anlaufstelle für Opfer einzurichten. Auch aus der Furcht, dass es wie ein Eingeständnis wirken könnte, dass in den Strukturen der Partei Missbrauch stattgefunden habe. Nach der Wahl setzte ein Umdenken ein, befördert durch ein Treffen der Kommission mit dem Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, sowie Vertretern von Betroffenenverbänden wie Zartbitter und Wildwasser. „Sie haben uns beraten, wie wir auf Betroffene zugehen können“, sagt Peter.

Danach beschloss die Partei, es nicht bei einer E-Mail-Anlaufstelle zu belassen, sondern eine telefonische Hotline einzurichten. Seit August ist einmal pro Woche eine Verhaltenstherapeutin zu erreichen, die Rörig vermittelt hat. Bisher haben sich rund zwei Dutzend Personen telefonisch oder per Mail gemeldet. Unter den Missbrauchsopfern war bislang offenbar keiner, bei dem es eine unmittelbare Verbindung zur grünen Partei gab. „Nach allem, was wir bisher wissen, waren die Grünen kein Ort der Tat. Aber wir haben in den 80er Jahren Beschlüsse gefasst, die Täter als Legitimation verstehen konnten. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen“, resümiert Peter.

Noch ist die Aufarbeitung nicht abgeschlossen, Mitte 2015 will die Kommission ihren Abschlussbericht vorlegen. Peter hofft, dass sich die Arbeit am Ende lohnt. „Wenn wir Vertrauen wiedergewinnen wollen, müssen wir uns den Debatten über unsere Parteigeschichte stellen.“

Dieser Text erschien in der "Agenda" vom 11. November 2014 - einer neuen Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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