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Russland-Versteher empfindet Gernot Erler nicht als Schimpfwort. „Der Gegensatz wäre ein Russland-Nichtversteher“, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete.

© Patrick Seeger/dpa

Ukraine-Krise: Gernot Erler: Es war einmal ein Putin-Versteher

Gernot Erler hat stets für den Dialog mit Osteuropa geworben. Doch die Ukraine-Krise hat alles verändert. Der Russland-Beauftragte ist enttäuscht von Moskau.

Von Hans Monath

Gernot Erler freut sich diebisch. Dass ausgerechnet Angela Merkel ihn, den notorischen Russlandversteher, an Zuversicht gegenüber Moskau übertrifft, findet der SPD-Politiker bemerkenswert. „Ich war beeindruckt von diesem Zitat der Bundeskanzlerin“, sagt er. Gemeint ist Merkels Aussage, wonach sie trotz der Ukraine-Krise am Fernziel eines partnerschaftlichen Verhältnisses zu Russland festhält.

„Das ist recht ambitioniert“, meint Gernot Erler: „Wir wissen nämlich gar nicht, ob die russische Seite dazu bereit ist oder andere Prioritäten setzt.“

Termin im Büro des Bundestagsabgeordneten. Schaut man aus dem Fenster im dritten Stock, sieht man auf der anderen Seite der Prachtallee Unter den Linden auf die Fassade der russischen Botschaft. Moskaus stalinistischer Repräsentationsbau ist nah. Erler schaut nicht hin. Der offiziellen russischen Politik steht er so fern wie wohl noch nie in seiner politischen Karriere. Dabei ist die Beziehung Deutschlands zum Osten, auch zu Russland, sein Lebensthema. Dem widmet er sich wieder als Koordinator der Regierung für die gesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland und Zentralasien.

Erlers Vater, ein junger Offizier, starb zu früh, als dass ihn der Sohn bewusst hätte erleben können. Der kam Anfang Mai 1944 zur Welt, der Vater fiel in den letzten Kriegstagen an der Ostfront. In schwierigen sozialen Verhältnissen, wie er selbst sagt, wuchs Erler im geteilten Berlin auf, wo er den Mauerbau erlebte und den Kennedy-Besuch. Immer sei ihm klar gewesen, „dass das Ost-West-Verhältnis die politische Kernfrage war, dass dieses Verhältnis enormen Einfluss auf mein Leben hatte“. Früh interessierte sich der junge Berliner für die russische Sprache, lernte bei einer Exil-Baltin das kyrillische Alphabet, wählte osteuropäische Geschichte als Studienfach und unterrichtete später an der Universität Freiburg. „Ich hatte das Privileg, dass ich das Ost-West-Verhältnis zu einer Lebensgeschichte machen konnte“, sagt er heute.

Mission Weltfrieden

Als er nach 20 Jahren an der Universität und als Verlagsleiter Politiker wurde, pflegte er seine Leidenschaft weiter. Aus dem Trauma der deutschen Geschichte und seiner eigenen Familiengeschichte unter der Nazi-Herrschaft zog Erler einen radikalen Schluss: Er widmete sich leidenschaftlich der Bearbeitung von Konflikten und der Aussöhnung Deutschlands mit den Ländern im Osten. Sein Anspruch an die deutsche Außenpolitik ist ziemlich hoch. „Mission Weltfrieden“ heißt das Buch, das er 2009 vorlegte.

Um zu verstehen, warum sich Erler heute so freut über Merkels Angebot an Russland, muss man die Vorgeschichte kennen: Während der ersten großen Koalition (2005 bis 2009) ging die Kanzlerin weit härter mit den antidemokratischen, autoritären Tendenzen der russischen Politik ins Gericht als ihr Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und dessen Staatsminister im Auswärtigen Amt, Gernot Erler. Seitdem galt der Freiburger Kritikern von Wladimir Putins Machtsystem als Schönredner, der vor der Wirklichkeit die Augen verschloss. „Erler repräsentiert den dubiosen Schmusekurs à la Gerhard Schröder“, warnte einer der Kommentatoren, die sich bestätigt fühlten, als 2013 in der „Zeit“ ein Aufsatz Erlers mit dem Titel „Schluss mit dem Putin-Bashing!“ erschien.

Während die Kritiker den Aufsatz, dessen Titel gar nicht von Erler stammte, als illusorisches Festhalten an der Möglichkeit einer Modernisierungspartnerschaft mit Moskau attackieren, verteidigt der Autor ihn als hellsichtig: „Ich kann für mich in Anspruch nehmen, schon im vergangenen Jahr auf die Wahrnehmungsunterschiede zwischen Russland und dem Westen hingewiesen zu haben.“ Gemeint ist der Umstand, dass die meisten Russen Putins Urteil teilen, wonach der Westen die Schwäche Russlands ausnutze. Sogar gute alte Freunde Erlers in Moskau und St. Petersburg glauben, die Maidan-Bewegung sei „ein reines Produkt der CIA“ und sehen ihr Land wieder im Kampf mit dem Faschismus. „Daraus wird der Schluss gezogen, es müsse nun eine neue Phase russischer Stärke beginnen, die das nicht mehr möglich macht“, sagt Erler.

Erler entfernt sich von Schröder und Bahr

Zum Vorwurf, er sei ein „Russland-Versteher“, äußert er sich ganz ähnlich wie jüngst Gerhard Schröder auf dem Russlandtag in Warnemünde: „Ich habe kein Problem damit, wenn ich als Russland-Versteher apostrophiert werde. Der Gegensatz wäre ein Russland-Nichtversteher.“ Die Beschäftigung mit den Motiven und den Wahrnehmungen der anderen Seite sei Voraussetzung für eine rationale Politik. Doch inhaltlich ist Erler heute meilenweit entfernt von Schröder, der Putins Völkerrechtsbruch partout nicht verurteilen will. „Wir haben Putins Spielchen durchschaut, vor EU-Entscheidungen immer positive Signale zu senden und danach die Hoffnungen zu enttäuschen“, begründete der Koordinator im September die jüngste Runde der EU-Sanktionen.

Seine neue Entschiedenheit im Urteil über die Moskauer Politik bringt Erler nicht nur in Gegensatz zum Altkanzler, sondern auch zu seinem außenpolitischen Lehrmeister Egon Bahr. 1994 hatte er dessen Nachfolge als Vorsitzender des Unterausschusses für Abrüstung und Rüstungskontrolle angetreten. Doch als Bahr im Sommer auf einem Treffen der „Parlamentarischer Linken“ für eine Art Äquidistanz zwischen Washington und Moskau plädierte und eine Neuauflage seiner Ostpolitik empfahl, konterte Erler scharf. „Wer hat den Status quo eigentlich infrage gestellt?“, fragte er und gab die Antwort: „Man muss sagen, dass das Russland war.“ Der „liebe Egon“ habe es damals besser gehabt als die heutige Generation. Seine Partner in Moskau seien verlässlich und berechenbar gewesen.

Es klang, als sei Erler der Glaube an die Möglichkeit des Ausgleichs mit Russland verloren gegangen, für den er ein ganzes politisches Leben gearbeitet hat. Fragt man ihn danach, so sträubt er sich, dieses Ziel aufzugeben. Er sieht das Verhältnis Russlands zum Westen aber „an der Schwelle zu einem Phasenwechsel“. Ob Moskau eine Rückkehr in die Phase des Kalten Krieges erzwingen werde, so sagt Erler, sei noch immer „eine offene Frage“.

Dieser Text erschien in der "Agenda" vom 14. Oktober 2014 - einer neuen Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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